Das „neue Format“ im „Großen Spiel“ um Syrien: Der Vierer-Gipfel in Istanbul

  31 Oktober 2018    Gelesen: 579
Das „neue Format“ im „Großen Spiel“ um Syrien: Der Vierer-Gipfel in Istanbul

Die Staatschefs von Russland, Deutschland, Frankreich und der Türkei haben sich am Nachmittag des 28. Oktober in Istanbul getroffen. Unterhändler und Experten aller vier Länder hatten sich zuvor wiederholt in Istanbul und Ankara getroffen, um das Treffen, die Themen und die Abschlusserklärung vorzubereiten.

Ort des Treffens war der historische Vahdettin Pavilion, der hoch über dem Bosporus in Üsküdar liegt – im asiatischen Teil von Istanbul. „Aufgabe des Tages ist es, die verschiedenen Formate zusammenzubringen, um unsere Uhren auf die gleiche Zeit einzustellen“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Man müsse verhandeln und versuchen, „gemeinsame Themen zu identifizieren“. Es sei „die erste Diskussion dieser Art“. Mit anderen Worten, man solle nicht zu viel erwarten.

Bei den „verschiedenen Formaten“ handelt es sich einerseits um die Astana-Gruppe, der Russland, die Türkei und der Iran angehören. Andererseits handelt es sich um die „Kleine Syrien-Gruppe“, von manchen auch „Syrien-Arbeitsgruppe“ genannt. Man kann sie auch Rest-Kern-Gruppe der „Freunde Syriens“ nennen, denn im Laufe ihrer Existenz seit Beginn des Syrienkrieges (2011) hat diese Gruppe verschiedene Namen getragen. Der „Kleinen Syrien-Gruppe“ gehören heute die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten an.

Beide Gruppen gehören zu den sogenannten „Stakeholdern“, den Gruppen, die gemeinsam ihre Interessen in Syrien gegenüber den Interessen anderer Gruppen und auch gegenüber der syrischen Regierung durchsetzen wollen. Neben der Astana-Gruppe und der „Kleinen Syriengruppe“, gibt es auch einen „Sotschi-Prozess“ und die vom UN-Sondervermittler Staffan De Mistura geleiteten „Syrien-Gespräche“ in Genf. Nicht alle Mitglieder der jeweiligen Interessensgruppen verfolgen das gleiche Ziel. Der Konflikt ist vielschichtig.

Die Astana-Gruppe

Die Astana-Gruppe möchte Syrien in seinen Grenzen, ungeteilt und als souveränen Staat erhalten und einen politischen Reformprozess im Land unterstützen. Gleichzeitig will man die eigenen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen in Syrien und am Mittelmeer stabilisieren. Russland und der Iran sehen die Region Syrien als potentiellen Einfallskorridor für westlich gesteuerte Angriffe auf ihre Territorien. Sie stimmen ihr Vorgehen mit der syrischen Regierung in Damaskus ab und befinden sich mit Zustimmung von Damaskus auch militärisch im Land. Die Türkei als Mitglied der Nato spielt ein doppeltes Spiel. Sie nutzt Vereinbarungen – beispielsweise zu Idlib und dem Gebiet um Afrin – für eigene nationale Ziele in Syrien und gegen die syrischen Kurden aus.

Russland hat seine geostrategischen Interessen in der Region militärisch und wirtschaftlich bereits mit der Regierung in Damaskus gefestigt. Abkommen zur langfristigen Nutzung von zwei militärischen Stützpunkten (Hmeimin bei Latakia und Tartus für die russische Marine) wurden unterzeichnet. Eine Zusammenarbeit im Energiesektor wurde vereinbart, die militärische Kooperation zwischen Russland und Syrien wurde ausgebaut.

Der Iran will vor allem die Verbindung in Syrien zur libanesischen Hisbollah stärken, wirtschaftliche Beziehungen ausbauen und die religiösen schiitisch-muslimischen Stätten in Syrien sichern. Die regionale „Achse des Widerstandes“ in Syrien soll gestärkt werden, um Israel und seine Verbündeten (im Westen, in Saudi-Arabien) abzuschrecken. Während der Iran im Irak durchaus politisch und religiös Einfluss nimmt, geht es bei der Präsenz in Syrien um den Schutz des eigenen Territoriums.

Die „Kleine Syriengruppe“

Die Mitglieder der „Kleinen Syrien-Gruppe“, die der Kontrolle durch die USA und Großbritannien unterliegt, wollen ihren jeweiligen Einfluss in Syrien und in der geostrategisch wichtigen Region ausweiten. Seit 2011 streben sie einen „Regime Change“ in Damaskus an. Ihr größter Widersacher dabei ist Russland, wie aus einem Protokoll dieser Gruppe hervorgeht, über das im Februar von der libanesischen Tageszeitung Al Akhbar berichtet wurde.

Die USA halten weite Teile Ost-Syriens besetzt und unterstützen dort agierende Gruppen gegen Damaskus. Ihr erklärtes Ziel ist die Sicherheit Israels. Dafür streben die US-Streitkräfte und die von den USA geführte „Anti-IS-Allianz“ die Kontrolle des ressourcenreichen Euphrat-Tals und der Grenze zum Irak an. So sollen die wirtschaftliche Erholung Syriens und die regionale Kooperation zwischen Iran, Irak, Syrien und der libanesischen Hisbollah verhindert werden.

Großbritannien ist historisch seit Anfang des 19. Jahrhunderts in die Kämpfe um Einfluss in der Region involviert. Damals stand das Kolonialreich im Kampf mit dem Russischen Zarenreich um Asien. Nach dem 1. Weltkrieg wurde Großbritannien nach der britisch-französischen Teilung des Mittleren Ostens vom Völkerbund zur Mandatsmacht in den neu gegründeten Staaten Irak, Transjordanien und Ägypten gemacht. Seit 2011 ist London ein engagierter Player im „Großen Spiel“ um Syrien.

Frankreich wurde nach dem 1. Weltkrieg – gegen den erklärten Willen der Syrer – Mandatsmacht in Syrien und hat auch nach der syrischen Unabhängigkeit im Jahr 1943 seinen Einfluss in dem Land – beispielsweise bei der Kontrolle historischer Ausgrabungen – nie aufgegeben. Seit 2011 förderte Paris – gemeinsam mit London, Berlin, Ankara, Washington, Katar und Riad – die syrische Opposition und den bewaffneten Aufstand, um einen „Regime Change“ durchzusetzen. 

Saudi-Arabien bekämpft in Syrien den Iran und hat seit 2011 syrische bewaffnete Gruppen, einschließlich dem „Islamischen Staat im Irak und in der Levante“ mit Geld, Waffen und auch mit saudischen Kämpfern und Offizieren unterstützt. Das geht aus einem Bericht des US-Militärgeheimdienstes (DIA) aus dem Jahr 2012 hervor.

Jordanien ist eher ungefragt in dieses „Großen Spiel“ involviert. Das politisch und wirtschaftlich schwache und extrem von saudischen, US- und anderen westlichen Geldern abhängige Land wird von der US-geführten „Anti-IS-Allianz“ quasi als Basis benutzt. Jordanien diente als Ausbildungslager für Kämpfer, in Amman befand sich ein westlich organisiertes Militärisches Operationszentrum (MOC) für die bewaffneten Gruppen.

Ägypten und Deutschland sind erst im Sommer 2018 in die „Kleine Syrien-Gruppe“ aufgenommen worden. Das bekanntgewordene Protokoll vom Treffen am 11. Januar 2018 weist bereits auf diese Absicht hin. Beide Länder werden gebraucht, um nach der Niederlage der bewaffneten Gruppen in Syrien den westlichen Interessen neue Korridore in das Land zu eröffnen.

Ägypten wird wegen seiner guten Beziehungen zu Damaskus gebraucht und ist aufgrund wirtschaftlicher Schwäche und wachsender Sicherheitsprobleme durch Angriffe islamistischer Gruppen im eigenen Land quasi gezwungen, vor allem saudische und US-Interessen zu bedienen. Deutschland wird wegen seiner traditionell engen Beziehungen zur Türkei gebraucht, um Ankara aus dem Astana-Lager herauszubrechen und perspektivisch – wie es 2011 bis 2015 der Fall war – wieder ins eigene Lager zu ziehen.

Deutschland wird auch gebraucht, weil es wegen der nach wie vor vorhandenen Beziehungen zu Russland – nicht zuletzt der persönlichen Gesprächsebene zwischen Kanzlerin Merkel und Präsident Putin – als Vermittler dienen soll. Zudem hat Deutschland nach wie vor in Syrien und bei der syrischen Regierung den Bonus, nie Kolonialmacht in der Region gewesen zu sein. Die engen Beziehungen mit Israel werden zudem in Syrien nachsichtig als „Verpflichtung der deutschen Geschichte“ erklärt.

Das „neue Format“

Der „Vierer-Gipfel“ in Istanbul war Ergebnis einer Niederlage der westlich dirigierten „Kleinen Syrien-Gruppe“. Der „Regime Change“ ist (bisher) nicht gelungen. Russland hat sich vorerst als stärkste Kraft in Syrien erwiesen. Gleichwohl halten die USA und ihre Verbündeten sowie die Türkei Teile Syriens im Norden und Osten sowie im Süden weiter direkt oder durch Stellvertreter besetzt. Soll ein großer internationaler Krieg vermieden werden – was unbedingt im Interesse Russlands ist – muss verhandelt werden. Mit der Entsendung Deutschlands und Frankreichs als Unterhändler hat die „Kleine Syrien-Gruppe“ das verstanden.

Eine neue Phase im „Großen Spiel“ um Syrien beginnt, die Konfrontation geht weiter. Russland und der Iran haben mit ihrer Unterstützung der amtierenden syrischen Regierung zur Stabilisierung weiter Teile des Landes verholfen. Zehntausende Flüchtlinge kehrten bereits aus dem Libanon nach Syrien zurück, der Grenzübergang nach Jordanien wurde geöffnet, die UN-Beobachtermission (UNDOF) nahm ihre Arbeit auf den Golanhöhen wieder auf, um die 1974 vom UN-Sicherheitsrat angeordnete entmilitarisierte Pufferzone zwischen dem israelisch besetzten syrischen Golan und Syrien zu kontrollieren.

Straßen, Brücken, die Strom- und Wasserversorgung werden wieder hergestellt. Wiederaufbaukonferenzen und Messen finden statt, um Investoren zu gewinnen. Doch weiterhin fehlt es an einem nachhaltigen Frieden im Norden und Osten des Landes. Und es fehlt Geld, um den Wiederaufbau und die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Hier spielt die „Kleine Syrien-Gruppe“ ihre ökonomische Macht aus und blockiert. Bei dem Treffen in Istanbul war der Wiederaufbau kein Thema, glaubt man den Erklärungen auf der gemeinsamen Pressekonferenz. Der einzige, der dort über Wiederaufbau sprach, war Präsident Putin. Russland habe sich intensiv bemüht, „soziale Probleme zu lösen und den wirtschaftlichen Aufschwung (…) zu unterstützen“, sagte er. „Hierbei muss auch die internationale Staatengemeinschaft eine Unterstützung leisten. Russland und Frankreich haben in Ost-Ghuta auch humanitäre Hilfe geleistet. Wir müssen diese Hilfe noch weiter ausdehnen – das können auch Medikamente sein, das können Ausstattungen im Gesundheitsbereich sein, das können diverse Reparaturen sein und das kann auch Wiederaufbau sein.“

Türkische Intervention in Syrien

Weder Macron noch Merkel gingen darauf ein. Die Türkei hat bereits begonnen, in den von türkischen Streitkräften und bewaffneten Gruppen besetzten Orten nördlich von Aleppo Straßen und Häuser zu bauen und Strom-, Telefon- und Wasserleitungen zu legen. So will die Türkei den eigenen Einfluss im Norden Syriens ausdehnen und das Land „den wahren Eigentümern“ zurückgeben. Erdogan meint die Turkmenen, die seit dem 11. Jahrhundert in der Region siedelten. Er beruft sich auf die 400-jährige osmanische Herrschaft in Syrien, um seinen Expansionsanspruch zu legitimieren.

In Istanbul zeigte der türkische Präsident Erdogan sich im Kampf gegen den Terror des „IS“ und der „PYD“ (Partei der demokratischen Union, syrische Kurden) entschlossen:

„Um diese beiden Terrororganisationen an ihrem Ursprungsort zu vernichten, haben wir die Operationen Euphrat und Olivenzweig verwirklicht. Insgesamt wurden dadurch 7500 Daesh- und PYD-Terroristen neutralisiert und 4000 Quadratkilometer Land vom Terror befreit.“ Die Türkei habe „die Städte Afrin, Dscharabulus und al-Bab in Syrien befriedet. Heute gibt es dort Sicherheit und Frieden.“

Über 260.000 Syrer seien in das Gebiet zurückgekehrt. Doch über das Schicksal von Tausenden vertriebenen syrischen Kurden aus Afrin sprach Erdogan nicht. Die Grenze zwischen der Türkei und Syrien dürfe kein Zufluchtsort für „irgendwelche Terrorgruppen“ werden, die „unter dem Deckmantel der Bekämpfung des Terrors irgendwelche De-facto-Situationen“ schafften. Die Türkei werde „im Westen des Euphrats (ebenso wie) im Osten des Euphrats die Gefahren und Bedrohungen gegen unsere nationale Sicherheit in ihrem Ursprung bekämpfen und vernichten“.

Dass die US-Armee und auch Nato-Verbündete wie Frankreich eng mit den syrischen Kurdenverbänden im Osten des Euphrat kooperieren, ist nach wie vor ein heftiger Streitpunkt zwischen den beiden Nato-Staaten USA und Türkei. Deutschland kommt der Türkei mit der anhaltenden Repression und Verfolgung kurdischer Vereine, Medien und Büros in Deutschland weit entgegen. Die Drohungen Erdogans, im Osten des Euphrats alle Bedrohungen für die türkische nationale Sicherheit (gemeint sind die syrischen Kurden und die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK) zu vernichten, wird Ankara nicht gegen den Willen Washingtons durchsetzen können.

Menschen und Ressourcen Syriens als (Ver-)„Handlungsmasse“

Die Öl-, Gas- und Wasserressourcen im Nordosten Syriens stehen unter Kontrolle der USA und ihrer Verbündeten von der „Anti-IS-Koalition“. Die syrischen Kurden werden von Washington und der „Koalition“ mit Geld und Waffen unterstützt. Das verschafft den USA „Handlungsmasse“, wie der ehemalige US-Außenminister Rex Tillerson es im Februar 2018 formulierte. „Die USA und die (Anti-IS-) Koalitionsstreitkräfte kontrollieren heute 30 Prozent des syrischen Territoriums und – damit verbunden – einen großen Anteil der Bevölkerung sowie der syrischen Ölquellen“, sagte er vor Journalisten in Kuwait. Das verschaffe Einfluss. Er rate allen Verbündeten, keine Geschäfte mit Syrien zu beginnen, bevor nicht der verlangte glaubwürdige politische Prozess vollzogen sei. „Glaubwürdig“ bedeute, dass Assad und seine Regierung nicht mehr im Amt seien. Solange könne man geduldig abwarten.

Folgerichtig wird alles, was Syrien nachhaltig stabilisieren und auf die eigenen Beine zurückbringen könnte, von den USA und Verbündeten blockiert. Hilfe durch die Uno für Rückkehrer wird von Geberländern aus der „Kleinen Syrien-Gruppe“ abgelehnt. Die „ökonomischen Strafmaßnahmen gegen Syrien“ – wie die seit 2011 verhängten EU-Sanktionen offiziell genannt werden – werden nicht aufgehoben. Militärisch weitet die Nato ihre Präsenz im Irak und in Jordanien aus. Deutschland erweitert und verlängert Ausbildungs- und „Kräftigungs“-Missionen bei den irakischen und jordanischen Streitkräften.

In die von den USA vorgegebene Art der engen zivil-militärischen Zusammenarbeit – erstmals vorgestellt 2009 im Field Manual (FM) 7-0 – reihen sich westliche und in der „Kleinen Syrien-Gruppe“ vertretene Nato-Staaten ein. Westliche Hilfsorganisationen arbeiten in den von der Türkei und den USA besetzten syrischen Gebieten, ihre Hilfsgüter werden aus der Türkei oder dem Irak dorthin transportiert – unter Umgehung der territorialen Souveränität der syrischen Regierung in Damaskus. Transfers und Wege nach Idlib werden vom türkischen Militär freigegeben oder blockiert. Für die Gebiete östlich des Euphrats brauchen auch deutsche Hilfsorganisationen oder Delegationen, die dorthin reisen, um beispielsweise die Region „Rojava“ zu besuchen, die Zustimmung des US-Militärs. Die US-Armee befindet sich in einer „Kriegsführung mitten unter der Bevölkerung“, wofür militärische und zivile Missionen – und natürlich die lokalen Akteure in den entsprechenden Gebieten – eng kooperieren müssen.

Für die „Kleine Syrien-Gruppe“ ist Syrien zwar ein souveräner Staat, wird aber je nachdem nur als „Krisenherd“ oder „Schurkenstaat“ behandelt. Der Friedensprozess wird mit immer neuen Vorbedingungen herausgezögert. Die syrische Gesellschaft wird durch einseitige Parteinahme in „Freund“ und „Feind“ gespalten. Ein innersyrischer Friedensprozess wird dadurch verhindert.

Geht es nach Washington und der „Kleinen Syrien-Gruppe“, soll der Euphrat zum Grenzfluss zwischen Syrien und einem von den USA kontrollierten kurdischen Projektgebiet „Ost-Euphrat“ werden. Ihre Pläne zum Südwesten des Landes sind zwar gescheitert, doch an der grundsätzlichen Strategie des „Regime Change“ hat sich nichts geändert. Nun soll die Entwicklung durch den in der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 festgelegten politischen Prozess unter dem Dach der Uno in Genf beeinflusst werden.

„Regime Change“ durch UN-geführten politischen Prozess?

Die am 18. Dezember 2015 verabschiedete Sicherheitsrats-Resolution ist eine Konkretisierung der Genfer Vereinbarung vom Juni 2012, die von dem damaligen UN-Sondervermittler Kofi Annan verhandelt worden war. Sie sieht einen „Fahrplan“ für einen Friedensprozess in Syrien vor, der Gespräche zwischen der syrischen Regierung und Angehörigen der Opposition beinhaltet. Ein landesweiter Waffenstillstand soll beschlossen werden, um den politischen Prozess in Gang zu bringen, der „von Syrien geführt und ein ausschließlich syrischer Prozess“ sei: „Das syrische Volk wird über die Zukunft Syriens entscheiden.“ Vorgesehen sind freie und faire Wahlen unter Aufsicht der Vereinten Nationen. Zuvor soll eine neue Verfassung erarbeitet und von allen Syrern, auch im Ausland, verabschiedet werden.

Russland und der Iran haben im Rahmen der Astana-Gruppe Basisarbeit für die angestrebte politische Veränderung in Syrien geleistet. Seit Ende 2016 unterstützen sie Waffenstillstände und Amnestievereinbarungen mit denjenigen, die ihre Waffen niederlegten. Sie führen Gespräche mit Oppositionellen, um sie an einen Tisch mit der syrischen Regierung zu bringen. Die Türkei hat durch ihre enge Beziehung und Kooperation mit den bewaffneten Gruppen in Syrien zu verhandelten Waffenstillständen und dem Abzug von Kampfgruppen nach Idlib beigetragen.

Bei einem von Russland initiierten „Kongress des nationalen Dialogs“ in Sotschi im Januar 2018 einigten sich mehr als 1500 Delegierte aus allen gesellschaftlichen Bereichen Syriens auf eine Abschlusserklärung. Darin wurde die Bildung eines Verfassungskomitees gefordert, das aus Delegationen der syrischen Regierung und der umfassenden Opposition zusammengestellt werden sollte. Die Arbeit dieses Komitees solle unter dem Dach des UN-Sondervermittlers in Genf beginnen.

Die Liste der syrischen Regierung (50 Delegierte) wurde im Sommer 2018 eingereicht. Die Liste der Opposition (50 Delegierte) wurde wesentlich von der Türkei bestimmt. Syrische kurdische Parteien sind ausgeschlossen. Eine dritte Liste (50 Delegierte aus der Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen), die ursprünglich in der Sotschi-Vereinbarung gar nicht vorgesehen war und von der UN-Vertretung in Genf zusammengestellt wurde, wird von Damaskus abgelehnt. Die Sotschi-Vereinbarung sieht zwar die Teilnahme der Zivilgesellschaft vor, nicht aber ausdrücklich drei verschiedene Delegationen.

Nun will Russland sich in die Bildung dieser dritten Liste aus  Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft einschalten, wie Präsident Putin in Istanbul sagte: „Das ist nicht ganz einfach, weil jede Partei natürlich diejenigen aufnehmen möchte, denen sie vertraut. Wenn es kein Vertrauen gibt, dann kann man auch nicht fruchtbar arbeiten.“ Russland werde sich mit der syrischen Regierung und mit dem Iran als Partner der Astana-Gruppe beraten. Ohne sie sei diese Frage nicht zu lösen.

Präsident Erdogan, Kanzlerin Merkel und Präsident Macron betonten die Notwendigkeit, dass die Verfassungskommission rasch, „bis Ende des Jahres“ zusammentreten müsse. Ähnlich hatten sich zuvor schon Vertreter Frankreichs, Großbritanniens und der USA im UN-Sicherheitsrat geäußert. Russland warnte, dass unnötiger Druck die Entwicklung nicht voranbringen, sondern verkomplizieren könne. Tatsächlich richtet sich der Druck, der von Teilen der „Kleinen Syrien-Gruppe“ in Sachen Verfassungskomitee aufgebaut wird, gegen die Astana-Gruppe und gegen Russland. Westliche Diplomaten werfen Moskau immer wieder vor, Damaskus „nicht zur Vernunft“ bringen zu können.

Was sagt man in Syrien?

In einem Interview mit dem russischen Nachrichtensender NTV am 24. Juni 2018bekräftigte Präsident Assad, dass die Frage der Verfassung ausschließlich eine Angelegenheit der Syrer sei. 2012 sei die syrische Verfassung reformiert worden. Nun solle sie neu diskutiert werden.

„Jeder Zusatz, jede Veränderung oder was immer muss durch ein nationales Referendum befürwortet werden“, so Assad. „Wenn das Volk eine neue Verfassung unterstützt und das in einem Referendum bekräftigt, werden wir natürlich eine neue Verfassung einführen. Das hat nichts mit dem zu tun, was die Uno oder andere Staaten wollen. Es ist eine ausschließlich syrische Angelegenheit.“

Außenminister Walid Mouallem betonte die syrische Souveränität und erklärte, niemand habe das Recht, sich in die innersyrischen Angelegenheiten einzumischen. Bei einem Treffen mit Vertretern des Weltfriedensrates in Damaskus erklärte er, Syrien arbeite mit allen bei den Treffen in Genf, Astana und Sotschi zusammen und beteilige sich auch an der Einrichtung eines Verfassungskomitees. Der UN-Sondervermittler und sein Team hätten allerdings versucht, die Liste für die Vertreter aus der Zivilgesellschaft selber zu bestimmen. Das habe Syrien abgelehnt.

Der Geschichtsprofessor George Jabbour, Vorsitzender der Syrischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, erklärte gegenüber der Autorin, Istanbul sei ein „Begrüßungstreffen von vier Mächten“ gewesen, die ihre eigenen Interessen in Syrien verfolgten. Russland sei klug, die Türkei ein Übeltäter, der Grenzen missachte, Frankreich sei die ehemalige Kolonialmacht Syriens, und Deutschland habe ein Problem mit den syrischen Flüchtlingen.

Es könne Ergebnisse geben, aber nicht sofort, so Jabbour weiter. Doch alle Versuche, zu einer friedlichen Lösung zu kommen, könnten durch die Bildung einer „Arabischen Nato“ zunichte gemacht werden, die kürzlich in Bahrain von den USA angekündigt worden sei. „Die Region braucht eine Konferenz für Frieden und Zusammenarbeit im Mittleren Osten und für das Mittelmeer“, so Jabbour.

Für Syrien erhoffe er sich eine „ernsthafte Verfassungsdiskussion“. Man könne die Verfassung in einem Komitee diskutieren. Aber es gebe auch andere Möglichkeiten: „Wir könnten die Medien für eine öffentliche Diskussion über spezielle verfassungsrechtliche Fragen öffnen und Versammlungen organisieren.“ Auch das syrische Parlament müsse einbezogen werden.

Der „Istanbul-Gipfel“ erinnere ihn an das Jahr 1918, sagte Mazen M., Autor und Übersetzer in Damaskus, auf Nachfrage der Autorin. Damals sei Syrien/Palästina gegen den Willen der dort lebenden Bevölkerung unter Frankreich und Großbritannien aufgeteilt und Syrien später unter französisches Mandat gestellt worden.

„Heute wird unsere Zukunft wieder von anderen bestimmt.“ Für die Bevölkerung sei das Geschehen in Istanbul aber uninteressant: „Das Leben ist so schwierig, täglich müssen so viele Probleme gelöst werden“, erklärte Mazen M.

sputniknews


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