Vor 100 Jahren wurde die erste deutsche Republik ausgerufen. Doch das Gedenken daran ist gedämpft, weil der Staat letztlich scheiterte. Das Ende von Weimar ist ein Trauma, das heute noch in den Köpfen festsitzt. Wie konnte die erste deutsche Republik zusammenbrechen und Platz machen für eine menschenverachtende Diktatur, für Holocaust und Zweiten Weltkrieg? Vor allem aber: Kann sich das wiederholen? Läuft die heutige Bundesrepublik Gefahr, denselben Weg zu gehen?
1956 beantwortete der Schweizer Journalist Fritz René Allemann diese Frage mit einer simplen Formel: "Bonn ist nicht Weimar". Der Titel seines Buches wurde zum geflügelten Wort, das in Deutschland dankbar aufgenommen wurde. Es war eine Art Selbstversicherung, es diesmal besser zu machen und bereits besser gemacht zu haben. Je länger die Bundesrepublik bestand, desto selbstverständlicher wurde dieser Satz. Auch noch, als Berlin Bonn als Hauptstadt ablöste.
Ausgerechnet 100 Jahre nach der Ausrufung der Weimarer Republik am 9. November 1918 kommen Zweifel an dieser Gewissheit. Die Warnungen vor "Weimarer Verhältnissen" mehren sich, aus vielen Gründen: Populisten und Extremisten erhalten Zulauf. Sie setzen auf alte Kampfbegriffe, die längst vergessen schienen, und schimpfen auf das politische System und dessen Vertreter. Die alte Weltordnung wird infrage gestellt. Hass auf Minderheiten und Antisemitismus nehmen wieder zu. Die Furcht vor einer gespaltenen Gesellschaft, vor gewalttätigen Auseinandersetzungen wächst.
Der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs sagte in einer Bundestagsdebatte in Richtung der AfD: "Schauen Sie in den Spiegel, dann sehen Sie, was diese Republik in den 20ern und 30ern ins Elend geführt hat." Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, fühlte sich angesichts von Aufmärschen von Rechtsextremen in Dortmund an Zeiten wie am Ende der Weimarer Republik erinnert. Gabi Engelhardt, Chemnitzer Aktivistin im Bündnis "Aufstehen gegen Rassismus", sagte: "Wir laufen im Schnellschritt auf eine Situation wie in den 30er-Jahren zu."
"Aus allen Fugen der Gesellschaft ausbrechender Hass"
Auch der Historiker Gerd Krumeich vergleicht die Stimmung in der Zwischenkriegszeit mit der Gegenwart: "Dieser aus allen Fugen der Gesellschaft ausbrechende Hass, der irgendetwas sucht, um eine neue Gestalt zu gewinnen - das ist nah an dem, was wir heute erleben", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. "Das erinnert mich immer stärker an die Weimarer Situation", so der 1945 geborene Historiker.
Doch auch wenn sich Entwicklungen oder Stimmungen ähneln mögen - kann man dann Parallelen ziehen? "Wenn bisweilen, in raunenden Tönen, vor 'Weimarer Verhältnissen' gewarnt wird, dann weise ich das entschieden zurück", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Gedenkstunde im Bundestag. "So machen wir unsere Demokratie kleiner und ihre Gegner größer, als sie sind!" Auch Heiko Maas warnte vor historischen Vergleichen. Gleichwohl sei es aber wichtig, "heute ganz klare Lehren aus unserer Geschichte" zu ziehen, so der Außenminister. Ähnlich äußerte sich der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster: "Wir haben eine gefestigte Demokratie in Deutschland. Staatlicherseits - und auch von all den demokratischen Parteien in den deutschen Parlamenten (...) - habe ich keine Befürchtungen, dass es zu gefördertem Antisemitismus kommt", sagte er im Bayerischen Rundfunk.
Richtig ist, dass kein Staat vor Krisen und Gefahren geschützt ist. Das gilt gerade für Demokratien, die nicht zu den Mitteln ihrer Feinde greifen wollen. Auch die Bundesrepublik kann scheitern und in ein autoritäres System umschlagen. Und doch ist Deutschland derzeit von einer "Weimarer Situation" weit entfernt.
So ist das politische System anders konstruiert, explizit als Reaktion auf das Weimarer Scheitern: von der Entmachtung des Präsidenten über die Fünf-Prozent-Hürde bis zum unumstößlichen Schutz bestimmter Grundrechte durch das Grundgesetz. Vor allem aber ist die Akzeptanz des Staates eine völlig andere als vor 100 Jahren. So weist der Historiker Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte in München darauf hin, dass "die Revolution von 1918 von einem Großteil des Bürgertums nicht anerkannt wurde". Daran änderte sich bis 1933 nur wenig. Dagegen wird die Bundesrepublik nach fast 70 Jahren von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung getragen. "Die Demokratie in der Bundesrepublik ist viel gefestigter", konstatiert der Potsdamer Geschichtswissenschaftler Frank Bösch.
Geschichte wiederholt sich nicht
Ein Grund dafür liegt in der unterschiedlichen Aufarbeitung der vorangegangenen Kriege. Weimarer Staat und Bundesrepublik entstanden aus einer Niederlage, doch der Bruch nach 1945 war deutlicher, die Aufarbeitung zumindest auf lange Sicht ehrlicher und der Wiederaufbau erfolgte in Westdeutschland eingebettet in das westliche Werte- und Bündnissystem, nicht isoliert wie bei der Weimarer Republik. Auf äußerst harte Friedensbedingungen wie im Versailler Vertrag verzichteten die Alliierten. Eine schnelle Erholung Deutschlands war - auch aus ökonomischen und ideologischen Gründen - ausdrücklich gewünscht. Heute ist eine Exportnation wie Deutschland mehr denn je abhängig von der Welt, ein Bruch mit diesem System hätte verheerende Folgen.
Auch die sozialen Umstände sind heute andere. Die Weimarer Republik hatte die meiste Zeit ihres Bestehens mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, von den Reparationsforderungen über die Inflation von 1923 bis zu Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit Ende des Jahrzehnts. Die Bundesrepublik kam dagegen durch das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre schnell wieder auf die Beine und steht heute so stark da wie selten in ihrer Geschichte. Auch wenn nicht jeder vom derzeitigen Aufschwung profitiert und die wachsenden Unterschiede zwischen Arm und Reich für Unzufriedenheit sorgen: Mit den sozialen Problemen der Weimarer Republik lässt sich das nicht vergleichen.
Nicht zuletzt suggerieren Vergleiche von Weimarer Republik und Bundesrepublik, dass Geschichte in festen Bahnen verläuft. Doch Geschichte wiederholt sich nicht. Die Entwicklungen sind offen, sie können gestaltet werden. Das heißt freilich auch, dass der Blick auf Weimar eine Mahnung sein muss, Gefahren für die Demokratie frühzeitig zu erkennen und entgegenzuwirken. Egal, wie stabil das derzeitige System scheint. Das ist umso wichtiger, je mehr die Erinnerungen an Weimarer Republik und Nationalsozialismus verblassen, weil die letzten Zeitzeugen sterben. Denn es gilt, was der Bundespräsident sagte: "Berlin ist nicht Weimar und wird es nicht werden", sagte Steinmeier im Bundestag. "Aber: Erinnerung kann den Blick schärfen für neue Anfechtungen. Und die gibt es gewiss!"
Quelle: n-tv.de
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