Wer hat Angst vor einem Buch?
Im Faschismus zeigte sich dieser Glaube in radikaler Weise. Keine andere Ideologie der Moderne vertraute so sehr auf die Stimme und nutzte sie derart für die politische und vor allem militärische Dauermobilisierung. Im Gegensatz zum Kommunismus, der geradezu einen Fetisch für die Schrift hegte, setzte insbesondere der Nationalsozialismus fast alles auf das gesprochene Wort. Zum einen mittels der hysterischen Massenansprachen von Hitler und Goebbels. Zum zweiten in Form seines ausgewiesenen Lieblingsmediums: den Tonfilm.
Von Stukas über Jud Süß bis zu Opfergang pumpten die Nazis Abermillionen Reichsmark in Kinoproduktionen, die Propaganda mit seichter Unterhaltung mühelos kombinierten. Und zum dritten vor allem in Gestalt des Radios, welches das cholerische Schnarren des Führers per Volksempfänger in die heimischen Wohnzimmer brachte. Entsprechende Programmhinweise hatte Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky bereits im Jahr 1935 gegeben: "Was das Gebäude der Kirche für die Religion, das wird der Rundfunk für den Kult des neuen Staates. […] Jeder Funkschaffende ist Träger nationalsozialistischer Sendung, ein Propagandist und Apostel der Idee."
Die medientheoretische Differenz zwischen Faschismus und Kommunismus bestand, schreibt der Kulturwissenschaftler Jochen Hörisch, darin, "dass das Hitler-, Mussolini- oder Franco-System kultisch auf diktatorische Radiostimmen, selbst der Stalinismus aber noch (nicht minder kultisch) auf Marx-Engels-Lenin-Stalin-Buchmeter ausgerichtet war."
Das ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass der Nationalsozialismus praktisch keine bleibenden Schriften hinterließ. Erst recht keine mit systematischem Anspruch. Mit zwei Ausnahmen. Die eine ist Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, der pseudowissenschaftliche Versuch von Hitlers Ideologen eine Art theoretisches Standardwerk des Nationalsozialismus zu schaffen. Stieß das Buch aber schon zu NS-Zeiten auf eher magere Resonanz, ist Rosenbergs Pamphlet heute nur noch ein Fall für interessierte Historiker. Ganz anders verhält es sich mit der zweiten Ausnahme: Adolf Hitlers Mein Kampf.
Hitlers einstiger Bestseller, der, so legen damalige Ausleihlisten von Bibliotheken nahe, keineswegs ein staatlich verordneter Staubfänger war, sondern wohl tatsächlich auch gelesen wurde, spukt bis heute im kollektiven Gedächtnis der Deutschen herum. Momentan vor allem deshalb, weil jetzt, 70 Jahre nach Hitlers Tod, die beim Freistaat Bayern liegenden Urheberrechte ausgelaufen sind und das Buch nun erstmals wieder erscheint: in der fast 2.000-seitigen Edition des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Und auch wenn die Ausgabe über 3.500 Anmerkungen zur kritischen Kommentierung aufbietet, wird dennoch seit Wochen und Monaten kontrovers diskutiert, was für Folgen die Veröffentlichung habe, ja, ob sieb aus schwachen Seelen sogar wieder Nazis machen könnte?
Fragt man nun, warum Mein Kampf offensichtlich immer noch so ein gespenstisches Faszinosum zu sein scheint, ist die Antwort womöglich weniger inhaltlicher als medientheoretischer Natur. Die Tatsache, dass Hitler drin ist, wo Hitler draufsteht, sollte 2016 in Guido-Knopp-Country ja eigentlich keinen mehr überraschen. Zumal Neonazis, seien es jene in Nadelstreifen oder die notorischen Fleischmützen mit Bomberjacke, den Text im Zweifelsfall sowieso schon besitzen. Dafür reichen ein paar Klicks im Netz.
Für alle anderen dürfte die gleichermaßen stumpfe wie mäandernde Melange aus Rassismus, Antisemitismus und Imperialismus, die nur ansatzweise den Versuch macht, so etwas wie eine Argumentation zu simulieren, kaum verführerisch wirken. Menschenhass zu predigen, das kriegt heute jede mittelmäßig gemachte Broschüre von Rechtsradikalen hin.