„Hungrig, durstig, verzweifelt“ – Silopi im Ausnahmezustand

  20 Januar 2016    Gelesen: 613
„Hungrig, durstig, verzweifelt“ – Silopi im Ausnahmezustand
Fünf Wochen lang verhängt die türkische Regierung eine Ausgangssperre über Silopi. In den Wohngebieten führt die Armee eine Offensive gegen die PKK. Für Zivilisten heißt das: Kein Einkaufen, kein Strom, kein Wasser - wie überlebt man so etwas? Ein Bericht des dpa-Korrespondenten Can Merey
Die Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung in Silopi stehen fassungslos vor ihren verwüsteten Büros. Türkische Spezialkräfte hatten sich hier während der Offensive gegen die PKK einquartiert. Sie haben die Türen aufgebrochen und Fenster eingeschlagen. Alle Computer sind weg, viele Akten ebenfalls, auf dem Boden liegen Geschosshülsen. Die ungebetenen Besucher haben Notizzettel hinterlassen. Auf einem steht: „Euch Bastarden wurde das Gehirn gewaschen.“ Die anderen Botschaften sind so obszön, dass sie besser nicht wiedergegeben werden.

Silopi wird von der DBP regiert, dem kommunalen Ableger der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP. Die AKP-Regierung unterstellt beiden Parteien, der PKK hörig zu sein. Am 14. Dezember vergangenen Jahres verhängt die Regierung eine Ausgangssperre über Silopi, gleichzeitig beginnt die Armee eine Offensive gegen die PKK in Silopi und in anderen Städten im Südosten. Bewohner berichten von Scharfschützen und Kampfpanzern.

Die Regierung erklärt die Operationen in Silopi am Dienstag für weitgehend beendet, die Armee meldet bis dahin mehr als 130 getöte Terroristen in der Stadt. Die Gemeindeverwaltung spricht von mindestens 27 Zivilisten, die getötet worden seien. Die gelockerte Ausgangssperre gilt jetzt nur noch nachts. Die knapp 90 000 Bewohner können erstmals seit mehr als einem Monat wieder auf die Straße gehen, ohne befürchten zu müssen, dabei erschossen zu werden.

Checkpoints, Patrouillen, vermummte Soldaten
Der Weg nach Silopi bleibt beschwerlich, er führt an der Stadt Cizre vorbei, wo Gefechte und Ausgangssperre andauern. Ein Checkpoint nach dem nächsten ist an der Zufahrtsstraße aufgebaut. Vermummte Soldaten mit Schnellfeuergewehren fragen barsch nach Ausweisen und dem Grund der Reise, flankiert werden sie von Panzern. Autos und Insassen werden gefilzt. Auch in Silopi patrouillieren gepanzerte Fahrzeuge von Armee und Polizei. Die Stimmung unter den kurdischen Bewohnern ist angespannt, sie schwankt zwischen Wut und Depression.

Vor der Gemeindeverwaltung fährt der städtische Leichenwagen vor, ein Toter ist in einer Straße geborgen worden, niemand weiß, wer der Mann ist. Ein paar Straßenzüge weiter ist das DBP-Büro niedergebrannt worden. An die Wand des Gebäudes haben Spezialkräfte das Kürzel ihrer Einheit gesprüht, daneben steht: „Wo ist der Aufstand?“ Auch an anderen Häuserwänden finden sich Schmähbotschaften, wie man sie eher von Besatzern als von Befreiern erwarten würde. Eine davon lässt sich sinngemäß so übersetzen: „Wo sind die Hunde der Schwuchtel Apo?“ PKK-Chef Abdullah Öcalan wird von Sympathisanten Apo genannt.

Vor diesem Hintergrund mag wenig verwunderlich scheinen, dass jeder befragte Kurde in Silopi die gleiche Antwort gibt auf die Frage, wer für die Eskalation der Gewalt verantwortlich ist: „Devlet“, der Staat. Dabei sind die nur notdürftig gefüllten Gräben der PKK-Jugendorganisation YDG-H noch überall zu sehen. Die Gräben sollten Sicherheitskräften den Zutritt verwehren. Aus Sicht der Regierung wurde damit das Gewaltmonopol des Staates ausgehebelt. Bewohner Silopis argumentieren, die YDG-H verteidige die kurdische Bevölkerung - gegen eben jenen Staat.

„Wir haben nur noch das, was wir am Leibe tragen“
Im Viertel Zap in Silopi ist einer jener Gräben, hier weist fast jedes Haus Einschusslöcher auf, viele davon deuten auf den Einsatz schwerer Waffen durch die Armee hin. Das Haus von Pergüze Asan wurde in Brand gesteckt - von Sicherheitskräften, wie die Mutter von zwölf Kindern sagt. Die Familie ist bei Nachbarn untergekommen. „Wir haben nur noch das, was wir am Leibe tragen“, klagt die 43-Jährige. Während der Gefechte hätten ihre Kinder am Boden gekauert und sich die Ohren zugehalten, so verängstigt seien sie gewesen.

Asan steht in ihrem Wohnzimmer, die einst lilafarbenen Wände sind schwarz vor Ruß. Ein Stundenplan hängt über einem angekokelten Tisch, dort habe einer der Söhne immer seine Hausaufgaben gemacht, sagt die Frau. In der Ecke stehen die verbrannten Überreste eines Fernsehers. Die Decke sieht aus, als würde sie jeden Moment einstürzen.

Während der Ausgangssperre blieben die Geschäfte geschlossen. Mehr als fünf Wochen habe die Familie vor allem von Tee und trockenem Brot gelebt, sagt Asan - Brot, das so alt gewesen sei, „dass wir es sonst an Tiere verfüttert hätten“. Trinkwasser habe die Familie gewonnen, indem sie Regen in Töpfen gesammelt habe. „Wir waren hungrig, wir waren durstig, wir waren verzweifelt.“

Eine Nachbarin Asans wirft der Regierung vor zu lügen, wenn sie behauptet, die Zivilbevölkerung sei versorgt worden. „In unserem Viertel haben wir überhaupt nichts bekommen“, sagt die 33-Jährige, die aus Angst vor Repressionen ihren Namen nicht veröffentlicht sehen möchte und mit ihren Eltern in Zap lebt. Wegen des Vaters, der nicht mehr gehen könne, habe die Familie nicht aus Silopi fliehen können. Am schlimmsten sei gewesen, dass während der Ausgangssperre Wasser und Strom im Viertel abgeschaltet worden seien.

Trotz der Ausgangssperre habe sie deswegen zur nahe gelegenen Schule laufen müssen, um Kanister mit Trinkwasser zu befüllen, sagt die Frau. Während um sie herum geschossen worden sei, sei sie nachts zu einem Nachbarn gerannt, der einen Generator habe, um das Mobiltelefon zu laden und den Kontakt zur Außenwelt zu halten. Auch sie macht den türkischen Staat verantwortlich für das Leid. Die 33-Jährige sagt: „Sie töten uns, weil wir Kurden unsere Rechte einfordern.“

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