Drei Gründe, warum Schengen noch nicht verloren ist

  26 Januar 2016    Gelesen: 834
Drei Gründe, warum Schengen noch nicht verloren ist
Niemand will, dass die Grenzen in Europa wieder definitiv dicht gemacht werden – die Bürger nicht, die Betriebe nicht und die Politiker schon gar nicht.
Man kann den Verfassern der EU-Gesetzestexte vorwerfen, was man will, für naiv sollte man sie allerdings nicht halten. So gut wie jede Verordnung verfügt über eine oder mehrere Hintertüren, die dann geöffnet werden können, wenn in Brüssel nichts mehr weitergeht und kreative Lösungen gefragt sind. Nicht anders verhält es sich mit der Verordnung Nr. 562/2006 vulgo Schengener Grenzkodex: Lange Zeit ging die nicht sachkundige Öffentlichkeit davon aus, dass Grenzkontrollen innerhalb der EU nur für die Dauer von höchstens einigen Wochen wieder eingeführt werden dürfen. Doch wer die Novelle der Schengen-Verordnung aus dem Jahr 2013 studiert, stößt bald auf Artikel 26 Absatz 2. Er besagt, dass „ein oder mehrere Mitgliedstaaten“ ihre Binnengrenzen wieder kontrollieren dürfen, sollten sich die Umstände als außergewöhnlich und die Mängel bei den Kontrollen der EU-Außengrenzen als schwerwiegend erweisen, und zwar ohne Ablaufdatum.

Schengen verfügt also über ein eingebautes Sicherheitsventil. Dieser Tatsache sollte man sich bewusst sein, wenn nun die Rede davon ist, dass die Wiedereinführung von Grenzkontrollen das Ende der Europäischen Union bedeuten würde. Dem ist nicht so. Dass an den innereuropäischen Grenzen wieder einmal Polizeikellen geschwungen werden, Reisende Staus erdulden und ihre Pässe mit sich führen müssen, ist ein Beleg dafür, dass die Schengen-Zone – und mit ihr die gesamte EU – in einer ernsthaften Krise steckt. Zum Untergang verurteilt ist sie deswegen noch lang nicht.

Und zwar aus mindestens drei Gründen: Erstens umgibt Schengen ein besonderer Nimbus, weil das reibungslose Reisen durch Europa – zu Recht – als eine Haupterrungenschaft der europäischen Integration gilt. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings, dass die Entscheidungsträger in Brüssel eine besondere Angst davor haben, an Schengen Hand anzulegen, weil sie den Zorn der EU-Bürger fürchten. Was allerdings dazu führt, dass der unbefriedigende Istzustand für sakrosankt erklärt wird. Wenn täglich Tausende Menschen auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben den Winterstürmen trotzen und an der Südflanke der EU Einlass begehren, lässt sich die Illusion, man könne wie in den goldenen 2000er-Jahren weitermachen, nicht länger aufrechterhalten. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Abhilfe sind glücklicherweise vorhanden und müssen nicht, wie während der Griechenland-Krise, ad hoc verfasst werden.


Der zweite Grund zur Zuversicht: Niemand will, dass Schengen zu Grabe getragen wird – die EU-Bürger nicht, die Unternehmen nicht und die Politiker schon gar nicht. Die Einzigen, die aus Prinzip gegen offene Grenzen wettern, sind die Stimmenfänger vom rechten Rand des politischen Spektrums. Doch sie können nur dann fette Beute machen, wenn es ihnen gelingt, Reisefreiheit zu einer Bedrohung für die innere Sicherheit zu stilisieren. Wer den Marktschreiern Paroli bieten will, darf nicht zulassen, dass sie sich zum Richter über die Sicherheit Europas aufschwingen. Wenn sich das aktuelle Chaos nur durch Grenzkontrollen bändigen lässt, dann muss dieser europapolitische Rückschritt pro bono publico in Kauf genommen werden – im Vertrauen darauf, dass es eine breite Mehrheit für offene Grenzen gibt, sobald sich die Lage wieder normalisiert hat.

Doch was, wenn die guten alten Zeiten nicht wiederkommen? Auch in diesem Fall ist Schengen nicht verloren. Dann nämlich dürfte die Stunde des oftmals heraufbeschworenen Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten schlagen. In einer Union mit 28 Mitgliedern ist der kleinste gemeinsame Nenner zwangsläufig kleiner als in einem Klub mit zwölf oder 15 Mitgliedern. Man kann diesen Zustand beklagen oder aus der Not eine Tugend machen und nach Gleichgesinnten suchen. Die Tatsache, dass die Flüchtlingskrise die EU-28 überfordert, bedeutet nicht, dass alle gleich überfordert sind. Es mag stimmen, dass die Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei nicht zu kontrollieren ist. Auf andere europäische Grenzen trifft dieser Befund mit Sicherheit nicht zu.

Michael Laczynski (Die Presse)

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