Liberalismus „ausgedient“? Johnson und Tusk kontern Putin und decken unüberwindbare Differenzen auf

  02 Juli 2019    Gelesen: 685
Liberalismus „ausgedient“? Johnson und Tusk kontern Putin und decken unüberwindbare Differenzen auf

Liberale können laut Wladimir Putin niemandem etwas einfach diktieren, so wie sie es seit Jahrzehnten versuchten – der Liberalismus als dominante politische Idee hat „ausgedient“. Europaratspräsident Donald Tusk und der britische Ministerpräsidenten-Kandidat Boris Johnson präsentieren darauf ihre Meinungen, die entgegengesetzt wirken.

Auch Top-Politiker führen über die Grenzen hinaus Debatten miteinander, oft mithilfe der Medien. Am Ende sprechen sie allerdings ihre Wähler an. Es war erst Russlands Präsident Wladimir Putin, der vor dem G20-Gipfel in Osaka gegenüber „The Financial Times“ sagte, die liberale Idee habe ihrem Ziel ausgedient, denn die Öffentlichkeit habe sich gegen unkontrollierte „Einwanderung, offene Grenzen und Multikulturalismus“ gewandt. Der Liberalismus sei also in Konflikt mit den Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung geraten. Sofort sorgte die Äußerung für Schlagzeilen. “Liberale können niemandem etwas einfach diktieren, so wie sie es in den letzten Jahrzehnten versucht haben“, sagte Putin übrigens. Wenigstens zwei Spitzenpolitiker konnten nicht daran vorbei kommen.

An diesem Montag veröffentlichte die britische „The Daily Telegraph“ eine Kolumne des Ex-Außenministers und nun Ministerpräsidenten-Kandidaten  Boris Johnson, die sich wie ein offener Brief an die Engländer liest. „Es ist eine Frage der wirtschaftlichen Tatsache, dass Wladimir Putin, wenn er sagt, der Liberalismus habe ausgedient, die ungeheuerlichste Scheiße spricht. Der Liberalismus lebt. Er ist gut. Er  schafft Wohlstand in einer Größenordnung, die für frühere Generationen unvorstellbar war“, schrieb Johnson und verwies darauf, dass „liberale Werte sein Land wohlhabend“ gemacht hätten. Es gebe kein besseres Beispiel für den Triumph der liberalen Werte als Großbrittanien. 

Nachdem Johnson die Vorteile, wie etwa Technologien, Lebensqualität oder Warenexporte, die aus seiner Sicht nur die liberale Demokratie mitbringt, sowie die Schwachstellen Russlands aufgezählt hatte, bereitete er ein Urteil für die EU: Diese habe angefangen, das grundlegende Merkmal einer liberalen Demokratie zu untergraben: dass das Volk die Macht haben sollte, bei Wahlen diejenigen zu entfernen, die die Gesetze erlassen. Das EU-System macht dies laut Johnson unmöglich. „Daher ist es so wichtig, dass wie jetzt weitermachen und dieses Mandat bis zum 31. Oktober erfüllen“. Will man nach Johnsons Logik die „liberalen Werte“ aufrechterhalten, sollte man so schnell wie möglich aus der EU austreten. 

Anders als Johnson nutzte der Präsident des Europarats, Donald Tusk, das Putin-Interview, um sein „Europa-Gefühl“ zu bekräftigen. „Ich muss sagen, dass ich dem Hauptargument [von Präsident Putin - Anm. d. Red.], dass der Liberalismus ausgedient habe, überhaupt nicht zustimme. Wir sind als Europäer auch hier, um die liberale Demokratie fest und eindeutig zu verteidigen und zu fördern. Wer behauptet, die liberale Demokratie sei veraltet, der behauptet auch, die Freiheiten seien veraltet, die Rechtsstaatlichkeit sei veraltet und die Menschenrechte veraltet. Für uns in Europa sind und bleiben dies wesentliche und lebendige Werte“, schrieb Tusk in einer Mitteilung auf der Webseite des Europarates. 

Aus mehreren Demokratie-Studien wie der des renommierten Politikwissenschaftlers Herbert Dachs geht hervor, dass es unterschiedliche Demokratiemodelle gibt, je nach der Denkschule und Herangehensweise, darunter sind auch pluralistisch-representative, soziale, partizipatorische oder direkte Demokratie. Laut dem großen Demokratietheoretiker Benjamin ist die liberale repräsentative Demokratie zwar unverzichtbar, sie ermögliche aber keine echte demokratische Partizipation, sondern zerstöre diese sogar. Er plädiert daher für eine Ergänzung durch stark ausgeprägte direktdemokratische Elemente, denn seiner Meinung nach könne nur die partizipatorische Demokratie alle Interessen ansprechen und aktivieren. Deutsche Elitenforscher wie Rainer Mausfeld oder Michael Hartmann kritisieren ihrerseits den neoliberalen Kurs der Politik, von dem vor allem die Eliten profitieren würden. Und der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Tom Enders, bestätigte kürzlich, die freiheitlichen Demokratien werden nur dann überleben können, wenn sie auch in Zukunft ihr Wohlstandsversprechen einlösen könnten. 

„Er meinte wirklich, dass, wenn die Ideen des Liberalismus den anderen aufgezwungen werden, wenn man die vom Liberalismus abweichenden Ideen für falsch hält, diese [liberalen] Ideen dann selbst diskreditiert werden“, präzisierte Putins Sprecher Dmitri Peskow am Wochenende die Worte des Präsidenten über Liberalismus gegenüber Journalisten. Laut Peskow hatte Putin die Idee gemeint, alles Nichttraditionelle in allen Bereichen einem aufzudrängen. „Was Putin selbst betrifft, ist er natürlich immer noch den Ideen des Liberalismus nahe, ist aber weit davon entfernt, andere für falsch zu halten“, sagte Peskow abschließend.

sputniknews


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