Damit spielt Renzi auf den größten Trumpf an, den er gegen Merkel in der Hand hat. Das Abkommen mit der Türkei ist das Herzstück von Merkels Plan, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. Ziehen die anderen EU-Staaten nicht mit, scheitert Merkels Plan. Damit hat sich Merkel verletzbar gemacht. Der ehrgeizige Renzi sieht darin seine Chance, ein paar ungeliebte europäische Fesseln abzuwerfen. Seit Wochen gebährdete sich der Duzfreund der Kanzlerin seltsam, feuerte eine Salve nach der anderen in Richtung Berlin und Brüssel ab. Italien will raus aus den Sparzwängen, will mehr Schulden machen dürfen und nicht mehr als ein Sorgenkind der EU à la Griechenland dastehen. Dass dies bisher der Fall ist, lastet er vor allem Deutschland an.
Merkel indes kann es sich nicht leisten, Verbündete zu verlieren - und kommt ihm entgegen. Der Preis wäre für Merkel politisch noch akzeptabel – hierzulande interessiert sich ohnehin gerade kaum jemand für die Euro-Politik. Mehr Freiheiten für Italien würden nicht zu einem Aufschrei führen. Mit einer Neuverschuldung von knapp 135 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steht das Land allerdings an zweithöchster Stelle in der EU direkt hinter Griechenland. Seit Jahresbeginn geht es im italienischen Bankensektor drunter und drüber; einzelne Banken rutschten mit ihren Kursen an der Börse um 40 Prozent ab. Merkel greift die selbstbewussten Forderungen des Italieners dennoch gnädig auf und lobt seine Reformpolitik insbesondere des Arbeitsmarktes, die "genau in die richtige Richtung" gehe. Sie stellt mehr Wirtschaftskooperation in Aussicht und eine gemeinsame Agenda im Jahr 2017, wenn Italien den Vorsitz der G7 innehaben wird und Deutschland den der G20.
Neue Adria-Fluchtroute könnte Italien treffen
Renzi wirkt entschlossen, das Image Italiens als südeuropäischer Krisenstaat abzuschütteln. "Ich war schon dreimal als Ministerpräsident zu Gast in diesem schönen Gebäude, aber zum ersten Mal habe ich keine Liste von Verpflichtungen dabei", leitete er sein Statement im Kanzleramt ein. Er wolle Italien zu neuem Gewicht in der EU verhelfen. Er betont, sein Land sei ein Gründungsmitglied der EU. "Wir wollen uns einbringen, wie es die Geschichte unseres Landes auch vorschreibt", sagte der Ministerpräsident. Er wolle die EU einen ganz anderen Kurs einschlagen sehen als in der jüngsten Vergangenheit. Und so beschwören Renzi und Merkel abwechselnd die Bedeutung der EU und europäischer Lösungen.
Noch in dieser Woche hatte sich Renzi in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" beklagt, dass sein Land zu wenig miteinbezogen werde, ob bei Wirtschaftsfragen oder in der Flüchtlingspolitik: "Wenn man eine gesamteuropäische Strategie zur Lösung der Flüchtlingsfrage sucht, dann kann es nicht reichen, wenn Angela zuerst Hollande und dann den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker anruft und ich das Ergebnis aus der Presse erfahre", sagte er da. Nun liefert er Merkel zumindest symbolische Rückendeckung bei ihrer Flüchtlingspolitik, lobt ihre Ausführungen zur Rolle der Türkei und der Fluchtursachen als völlig richtig. "Wir kennen das Gefühl der Einsamkeit", sagt er und spielt damit auf die Zeiten an, als die meisten Flüchtlinge noch auf der italienischen Insel Lampedusa anlandeten.
Nun betont Renzi, wie gut sein Land inzwischen beim Registrieren und bei der Organisation der Hotspots sei. Vielleicht deshalb geht es Renzi bislang leicht über die Lippen, sich wie Merkel gegen Obergrenzen auszusprechen. Wie sie wird er vielleicht schon bald wieder auf Solidarität angewiesen sein: Weil in den Balkanstaaten die Grenzen inzwischen viel weniger durchlässig geworden sind gibt es Warnungen, dass Italien bald wieder mit mehr Flüchtlingen zu tun haben könnte. Angeblich sind Schlepperbanden bereits dabei, eine alternative Route über die Adria vorzubereiten, die von Albanien aus zur 80 Kilometer entfernten italienischen Küste führen soll. Die Distanz, die die Migranten derzeit zwischen der Türkei und den griechischen Inseln zu überwinden haben, ist nur etwa ein Zehntel so groß. Mit dem tödlichen Drama, das sich dann abspielen würde, will Italien dann nicht wieder alleingelassen werden.
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