Wenn aus Sicht Ursula von der Leyens alles glattgeht, erlebt sie an diesem Mittwoch die Krönung ihrer politischen Karriere. Um zwölf Uhr mittags stimmt das Europaparlament über die künftige EU-Kommissionspräsidentin und ihr 26-köpfiges Team ab. Findet sich eine einfache Mehrheit - woran in Straßburg niemand ernsthaft zweifelt -, kann die CDU-Politikerin am 1. Dezember die Amtsgeschäfte vom bisherigen Kommissionschef Jean-Claude Juncker übernehmen.
Für von der Leyen wäre es der erfolgreiche Abschluss einer holprigen Prozedur. Gleich drei ihrer Kommissarskandidaten - die Französin Sylvie Goulard, die Rumänin Rovana Plumb und der Ungar László Trócsányi - fielen bei den Anhörungen im Parlament durch. Die Ersatzbewerber haben anschließend grünes Licht bekommen. Eine Mehrheit für von der Leyens Team gilt deshalb als nahezu sicher. Weniger sicher aber ist, ob sie auch komfortabel ausfallen wird - oder ob das Parlament der Deutschen einen weiteren Denkzettel verpasst. Klar scheint nur so viel: Ein Triumphzug wird es für von der Leyen nicht.
Vorteil von der Leyen: Es wird namentlich abgestimmt
Schon ihre Wahl zur Kommissionschefin im Juli geriet zur Zitterpartie. Am Ende bekam sie nur neun Stimmen mehr als notwendig, sogar einige CDU-Abgeordnete sollen sich gegen sie gestellt haben. Wie viele genau, weiß niemand, da die Wahl geheim war. Nun wird namentlich abgestimmt. Vor Rebellen aus den eigenen Reihen darf sich von der Leyen deshalb einigermaßen sicher fühlen - immerhin. Die Europäische Volkspartei werde "geschlossen" für die neue Kommission stimmen, sagte EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU).
Auch die Sozialdemokraten signalisieren Zustimmung. Nicht alle Kommissare seien perfekt, sagte Fraktionschefin Iratxe García Pérez. Aber insgesamt könnte die Kommission "das Europa umsetzen, das wir uns wünschen", meinte die Spanierin. Später am Dienstagabend tagte die Fraktion mit sieben der neun künftigen sozialdemokratischen EU-Kommissare. Anschließend war klar, dass die S&D-Gruppe sich mehrheitlich hinter von der Leyen stellen wird - auch die Deutschen, die sie noch im Juli geschlossen abgelehnt hatten. "Jetzt geht es nicht es nicht mehr nur um von der Leyen", sagte Jens Geier, Chef der SPD-Gruppe, "sondern um die Kommission insgesamt und damit auch um die sozialdemokratischen Kommissare."
Die Liberalen wollen von der Leyens Team ebenfalls wählen, wie es am Dienstagabend aus der "Renew Europe"-Fraktion hieß. Und auch für die Zukunft darf von der Leyen zumindest hoffen, ihre Gesetzesvorhaben mithilfe einer informellen Dreierkoalition aus EVP, S&D und RE umzusetzen. Die Vorsitzenden der drei Fraktionen werden sich regelmäßig mit den künftigen Kommissionsvizepräsidenten Frans Timmermans, Margrethe Vestager und Valdis Drombrovskis treffen, hieß es aus Parlamentskreisen.
Keine Stimmen von Linken und Grünen - und wieder Ärger mit Ungarn
Von den Rechtskonservativen und -populisten wird von der Leyen an diesem Mittwoch dagegen voraussichtlich nur wenige, von der Linken gar keine Stimmen bekommen. "Die Linksfraktion wird morgen gegen die Kommission stimmen", erklärte Fraktionschef Martin Schirdewan. Von der Leyen habe "allen alles versprochen", halte aber zugleich an der Spar- und Kürzungspolitik der EU fest. "Sie kann ihre Versprechen also gar nicht einlösen", so Schirdewan.
Ähnlich sieht es bei den Grünen aus. "Ich glaube, wir werden uns enthalten", sagte der Co-Fraktionsvorsitzende Philippe Lamberts. Am Klimaschutzpaket der neuen Kommission etwa müsse es massive Veränderungen geben. Lamberts' Kollegin Ska Keller störte sich derweil daran, dass mit dem Franzosen Thierry Breton "der Chef einer der größten IT-Firmen Europas mal eben auf den Posten des Binnenkommissars mit Zuständigkeit Digitalmarkt rutscht". Interessenkonflikte seien da unvermeidbar.
Für zusätzlichen Ärger sorgt wieder einmal die ungarische Regierung. Im eigenen Land baut sie Demokratie und Rechtsstaat ab, hat sich dadurch ein Strafverfahren der EU eingehandelt - und soll demnächst ausgerechnet den Kommissar für die EU-Erweiterung stellen. Er müsste unter anderem sicherstellen, dass in Beitrittsländern EU-Werte und Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleiben.
Ungarns erster Kandidat Trócsányi fiel im Parlament durch, und Ersatzmann Olivér Várhelyi wurde erst bestätigt, nachdem er sich in einer schriftlichen Stellungnahme von Ungarns autokratischem Regierungschef Viktor Orbán distanziert hatte.
Orbán verhöhnt das Parlament
Doch am Wochenende eröffnete Orbán den Abgeordneten, dass er sie hinters Licht geführt habe. Das "Spiel mit dem Distanzieren" müsse man nicht weiter ernst nehmen, erklärte er. Hohe internationale Posten besetze er nur mit "guten Patrioten". Und Várhelyi sei ein "hervorragender ungarischer Patriot". Als Erweiterungskommissar könne er sich künftig mit Migranten befassen, denn die kämen schließlich gern über den Balkan in die EU. Außerdem werde Várhelyi sich um die "afrikanische Bedrohung" kümmern. Das Interview mit dem Sender "Radio Kossuth" ließ Orbán in Brüssel auf Englisch und Deutsch verbreiten - damit es auch möglichst alle mitbekommen.
Die ungarische Botschaft und von der Leyens Übergangsteam haben auf Anfragen zu dem Vorgang nicht reagiert - was kaum verwundert, da Orbán sowohl seinem eigenen Kommissar als auch von der Leyen keinen Gefallen getan haben dürfte. "Várhelyi kann darauf unmöglich reagieren", meint Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. "Aber eine solche Aktion passt zu Orbán." Der Ungar müsse offenbar selbst im Augenblick eines Erfolgs noch provozieren.
Doch auch das hätte für von der Leyen wohl nur dann gefährlich werden können, wenn die Sozialdemokraten sich hätten provozieren lassen. Danach aber sieht es nicht aus. "Dass Orbán die Bestätigung seines Ersatzkandidaten als Erfolg feiert - geschenkt", sagt SPD-Mann Geier. Wichtiger sei, wie Várhelyi sich als Kommissar verhalte. "Er steht auf meiner Beobachtungsliste", sagt Geier, "und nicht nur auf meiner."
spiegel
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