Helmut Kohl will es nun wissen. War der Bundeskanzler einen Tag nach dem Mauerfall bei der Kundgebung vor dem West-Berliner Rathaus Schöneberg noch ausgepfiffen worden, versucht er nun mit aller Macht, sich in der deutsch-deutschen Frage an die Spitze der Bewegung zu stellen. Er wittert die Gefahr, dass Politiker wie der langjährige SPD-Chef Willy Brandt im Zusammenhang mit den Ereignissen in der DDR deutlich an Popularität gewinnen. Das kann der CDU-Chef nicht zulassen, denn er muss als Bonner Regierungschef in der Debatte um die Einheit Deutschlands das Heft des Handelns in der Hand behalten.
Kohl muss, will er sich innenpolitisch die Meinungsführerschaft sichern, aufs Ganze gehen. Ein Plan muss her, um die Chance zu nutzen, die der Umbruch im Osten für die deutsche Einheit bietet. Seine rechte Hand Horst Teltschik berichtet in einer ZDF-Dokumentation von einem Treffen mit dem sowjetischen Deutschlandexperten Nikolai Portugalow ("Für mich war er immer die Wetterfahne Moskaus"). Diesmal liegt das bisherige Tabuthema deutsche Wiedervereinigung auf dem Tisch. Portugalow sondiert in Bonn, was die Bundesregierung vorhat. "Wir sind bereit, über bislang Undenkbares zu denken", sagt er und legt Teltschik ein Papier vor, von dem sein Chef Michail Gorbatschow allerdings keine Kenntnis hat. Portugalow testet lediglich die Kohl-Regierung, die nun auch wirklich aktiv wird.
Am 28. November 1989 startet der Kanzler seinen großen Coup und stellt dem Bundestag seinen Zehn-Punkte-Plan vor. Wie Teltschik in seinem Buch "329 Tage" schreibt, hatten Kohl und seine engsten Berater große Bedenken, der Koalitionspartner FDP oder die oppositionelle SPD könnten vor Kohl ein Konzept zur deutschen Wiedervereinigung erarbeiten. Daher sei Eile geboten gewesen. Der Plan sollte geheim gehalten werden, damit niemand dem Bundeskanzler noch zuvorkommen konnte. Zur Veröffentlichung wird der Tag der Haushaltsdebatte im Bundestag in Bonn gewählt.
Nichteingeweihter Genscher bewahrt Fassung
Kohl weiht die FDP und damit auch Außenminister Hans-Dietrich nicht ein. Den Zehn-Punkte-Plan tippt Kohls Ehefrau Hannelore auf einer Schreibmaschine ab. Alles ist streng geheim. Um aber sicherzustellen, dass die Medien gewappnet sind, gibt es am Abend des 27. November für ausgewählte Journalisten eine vertrauliche Unterrichtung im Kanzleramt. Kohl hatte die Idee seines Stufenplans bereits Stunden zuvor im CDU-Präsidium angedeutet, ohne ins Detail zu gehen. "Diese vertraulichen Partei- und Fraktionsgremien sind so löchrig wie ein Schweizer Käse", begründet Teltschik in seinem Buch das vorsichtige Agieren des Kanzlers.
So kommt Kohls Rede für die meisten Abgeordneten völlig überraschend. Am Rednerpult im Bundestag holt er aus: "Erstens: (...) Die Bundesregierung ist zu sofortiger, konkreter Hilfe dort bereit, wo diese Hilfe jetzt benötigt wird. (...) Drittens: Ich habe angeboten, unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird. (...) Viertens: (...) Diese Zusammenarbeit wird zunehmend auch gemeinsame Institutionen erfordern (...)." Die größte Tragweite hat dann Punkt fünf: "Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden deutschen Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, danach eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung, zu schaffen. (...). "Sechstens: (...) Die künftige Architektur Deutschlands muss sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas (...). Siebtens (...) Den Prozess der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir als europäisches Anliegen (...). Zehntens:(...) Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung."
Großer Beifall, auch von den oppositionellen Sozialdemokraten. Angesichts der "nationalen Herausforderung", wie ihr Partei- und Fraktionschef Hans-Jochen Vogel sagt, unterstützt er Kohl und warnt vor Störungen durch Parteipolitik. Die Grünen halten dagegen das Ziel der Wiedervereinigung für falsch. Und die FDP? Der nicht eingeweihte Genscher bewahrt auf der Regierungsbank mit Mühe Fassung. Er kritisiert Kohls Vorgehensweise auch Jahre später noch. Wegen der besonderen historischen Situation ist die christlich-liberale Koalition aber nicht in Gefahr.
Verärgerung in Paris, Widerstand aus London
Das Ausland war irritiert. US-Präsident George Bush war nicht informiert worden, unterstützt nach kurzzeitigem Grollen den Plan aber voll und ganz. Der Republikaner wird zum größten Unterstützer Kohls hinsichtlich der deutschen Vereinigung. Sein Außenminister James Baker erklärt: "Einheit kann vieles bedeuten: einen einzigen Bundesstaat etwa, eine Konföderation oder sonst etwas." Etwas positiver äußert sich Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice: "Ein deutscher Kanzler mit dieser Aussage zu diesem Zeitpunkt war revolutionär. Wir waren nicht so sehr bestürzt über den Inhalt der zehn Punkte, sondern darüber, dass wir nicht vorher davon wussten."
Verärgert über Kohls Alleingang ist Frankreichs Präsident François Mitterrand. Bush zitiert seinen Kollegen aus Paris: "Ich mag Deutschland so sehr. Es sollte zwei davon geben." Der Élysée-Palast signalisiert wenig später aber, man könne damit leben. Der Prozess solle nur nicht zu schnell verlaufen.
Ganz entschiedener Widerstand kommt von der britischen
Premierministerin Margaret Thatcher, deren Verhältnis zu Kohl ohnehin schwierig ist. Die Konservative liebt die Deutschen nicht. Ihre Heimatstadt Grantham war während des Zweiten Weltkrieges ein häufiges Angriffsziel der deutschen Luftwaffe. Wenige Tage nach der Kohl-Rede vor dem Bundestag findet in Straßburg ein EU-Gipfel statt. Der Kanzler spricht in seinen "Erinnerungen" von einer noch angespannten und unfreundlichen Atmosphäre. Thatcher habe für den scharfen Ton gesorgt: "Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen. Jetzt sind sie wieder da."
"Der Kanzler hört wohl schon Marschtrommeln"
Entscheidend ist aber die Haltung der Sowjetunion. In Moskau kommt Kohls Plan überhaupt nicht gut an. Außenminister Eduard Schewardnadse wirft dem Bundeskanzler Einmischung in die Belange der DDR-Bürger vor, die ihren Staat selbst verändern wollten.
Genscher reist am 4. Dezember nach Moskau, wo er auf einen ungehaltenen Gorbatschow trifft, der Kohls Alleingang ohne vorherige Absprache verurteilt. Gorbatschows Berater Anatoli Tschernjajew zufolge ist der KPdSU-Generalsekretär "an die Decke gegangen". Gorbatschow selber sagt in der ZDF-Doku: "Genscher hat unsere geballte Wut zu spüren bekommen. Ich sagte ihm: 'Der Kanzler hört wohl schon Marschtrommeln und bringt sich in Stellung.'" Im Kreml herrscht Aufregung. Kein Wunder, denn der Chef steht im eigenen Land massiv unter Druck. Die Hardliner und Militärs stehen einer Wiedervereinigung Deutschlands ablehnend gegenüber. Gorbatschow muss um seinen Posten fürchten.
Zurückhaltend wird in Ost-Berlin reagiert. Der DDR-Staatsratsvorsitzende Egon Krenz, der in diesen Tagen einen rasanten Machtverlust erlebt, erklärt, eine Konföderation komme für die DDR nur infrage, wenn von zwei souveränen Staaten ausgegangen werde. Für Krenz steht die Wiedervereinigung Deutschlands nicht auf der Tagesordnung. Der damalige SPD-Politiker und spätere Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine nennt Kohls Zehn-Punkte-Plan gar einen "großen diplomatischen Fehlschlag".
Quelle: n-tv.de
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