Geht es nach dem Europaparlament, gibt es nicht mehr nur einen Klimawandel, auch keine Klimakrise, sondern einen Klimanotstand. Das zumindest hat eine Mehrheit der Abgeordneten am Donnerstag beschlossen. Den Grünen reichte die Resolution jedoch nicht. Sie kritisierten, das Parlament habe sich nicht auf "konkrete Schritte und sofortiges Handeln" festgelegt.
Umso merkwürdiger war der Verlauf einer weiteren Abstimmung, bei der es tatsächlich um konkrete Schritte in Sachen Klimaschutz ging: die Entschließung des Europaparlaments zur Uno-Klimakonferenz in Madrid, die kommende Woche beginnt. Die weitreichende Resolution wurde mit großer Mehrheit angenommen, Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberale stimmten nahezu geschlossen dafür. Mehrheitlich dagegen waren ausgerechnet: die Grünen.
Was das Europaparlament von der Madrider Klimakonferenz verlangt, ist - anders als die Debatte über den Klimanotstand - nicht nur von symbolischer Bedeutung. Das Parlament muss internationalen Abkommen zustimmen, damit sie in Kraft treten können, auch bei den Gesetzen für deren Umsetzung redet es mit.
Zudem hat es die Resolution an ihrem zentralen Punkt in sich: Das Parlament fordert nun offiziell, die Treibhausgas-Emissionen der EU bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Das ist nicht nur eine massive Erhöhung des bisher gültigen Reduktionsziels von 40 Prozent. Das Parlament übernimmt damit auch jene Position, mit der die Grünen noch im Sommer in die Europawahl gezogen sind.
Grünenfraktion gespalten bis in die Fraktionsspitze
Dennoch stimmten 46 Grüne dagegen und nur 15 dafür, zwei enthielten sich. Der Riss ging sogar quer durch die Fraktionsspitze: Die Deutsche Ska Keller war für die Resolution, ihr belgischer Co-Fraktionschef Philippe Lamberts dagegen.
Der Grund war nach Angaben aus Fraktionskreisen nicht etwa, dass das Reduktionsziel von 55 Prozent zu niedrig war - seit vergangener Woche fordern die Grünen ein Minus von 65 Prozent. Nein, es ging um etwas anderes: die Atomkraft.
Im Verlauf der Verhandlungen fand eine Änderung ihren Weg in den Resolutionstext, in der es heißt, die Kernenergie könne "zur Verwirklichung der Klimaschutzziele beitragen". Schließlich stoße sie keine Treibhausgase aus und könne einen "erheblichen Teil zur Stromerzeugung in der EU" beitragen. Zwar fordert die Resolution auch eine "mittel- und langfristige Strategie", um das Problem mit den strahlenden Abfällen in den Griff zu bekommen. Doch dass die Atomkraft für umweltfreundlich erklärt werden sollte, war den meisten Grünenabgeordneten offenbar zu viel.
Die politische Konkurrenz nutzte die Steilvorlage prompt. Als "unfassbar" bezeichnete Daniel Caspary, Chef der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, das Abstimmungsverhalten der Grünen. Fraktionschefin Keller habe die Entschließung noch gemeinsam mit den Christdemokraten unterstützt. "Alle anderen deutschen Grünen rufen den Klimanotstand aus und verweigern dann die Umsetzung", so Caspary. Damit seien die Grünen "komplett unglaubwürdig". Keller wirft den Christdemokraten ihrerseits vor, dass sie "im Glashaus sitzen", da sie konkrete Klimaschutzmaßnahmen in der "Notstand"-Resolution abgelehnt hätten.
Neue EU-Gelder für neue Atomenergie-Forschung?
Für die Grünen aber droht die Atomkraft-Frage zu einem Dauerdilemma zu werden, dessen Spaltpotenzial mit der Bedeutung der Klimadebatte wächst. Auf der einen Seite stehen jene, die der Kernkraft zwar kritisch gegenüberstehen, sofortigen Klimaschutz aber für wichtiger halten als das sofortige Ende aller Atommeiler. Auf der anderen Seite finden sich jene, die Kernkraft entweder selbst für Teufelszeug halten oder aber Angst vor den Teilen ihrer Wählerbasis haben, die dieser Meinung sind.
Die Atom-Frage treibt die Umweltbewegung schon seit Langem um. 2007 etwa forderte ihr früher Vordenker James Lovelock ein Ende der "grünen Romantik" und einen massiven Ausbau der Kernenergie, um das Klima zu schützen. Ähnlich äußern sich prominente Klimawissenschaftler. Der US-Klimatologe James Hansen bezeichnete im Interview mit dem SPIEGEL den Atomausstieg als "großen Fehler für die Welt" und warf Umweltorganisationen vor, aus teils irrationalen Gründen an ihrer Anti-Atomkraft-Haltung festzuhalten. Andere Forscher wiederum lehnen die Kernenergie als Klimalösung ab: zu schmutzig, zu gefährlich, zu langsam im Ausbau.
Zugleich aber geht es in der Debatte um viel Geld. Wird die Atomkraft als klimafreundlich eingestuft, könnte es den Betreibern den Zugriff auf die Milliarden aus den Klimafonds der Vereinten Nationen eröffnen. Ähnliches tut sich auf EU-Ebene. Nach Informationen des SPIEGEL wollen die Forschungsminister der EU-Staaten am Mittwoch in Brüssel über einen Beschluss beraten, in der die Atomkraft-Forschung als "möglicher Beitrag für den Übergang zu einem klimaneutralen Energiesystem" bezeichnet wird - und so nicht nur EU-Fördermillionen, sondern ab 2022 womöglich auch Energie-Kredite der Europäischen Investitionsbank bekommen könnte.
spiegel
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