Der Mann, der sich Ahmed nennt, spaziert durch den Regen von Hannover. Schmal und klein ist er, kaum 1,60 Meter groß. Sein Gesicht ist zart und von unbestimmbarer Jugend, mit einer dominanten Stirn. Er wirkt zurückhaltend. Er sei gegen jede Art von Gewalt, sagt Ahmed, und froh, der Brutalität in seiner somalischen Heimat entronnen zu sein. "An Deutschland liebe ich vor allem die Gesetze", sagt er. "Ich bedanke mich herzlich bei Gericht, wie ich behandelt wurde."
Ihm wurde vorgeworfen, dass er ein Pirat ist. Jetzt aber ist Ahmed ein freier Mann.
Am 8. Mai 2010 ist das Meer glatt wie Glas, die Marida Marguerite, ein deutscher Tanker, liegt schwer im Wasser, als sich vom Horizont ein kleines offenes Motorboot nähert. Von der Marguerite aus ist nur ein schmaler Streifen aufgeschäumter Gischt zu erkennen, weil die Wasseroberfläche die Mittagssonne spiegelt. In diesem Moment auf hoher See, 14° 57` Nord, 54° 48` Ost, 300 Seemeilen nordöstlich von Somalia, nimmt eine Geschichte ihren Anfang, deren Stränge sich über den ganzen Globus spannen werden. Die moderne, globalisierte Seefahrt wird auf archaische, grausame Piraterie prallen. Niedersächsische Kriminalbeamte werden versuchen, ein Verbrechen aufzuklären, das 6.000 Kilometer von Deutschland entfernt begangen wurde, ihre Protokolle werden sich wie ein Thriller lesen. Und ein deutscher Richter wird anhand deutscher Paragrafen über einen Menschen aus einem Land entscheiden, das keine Gesetze kennt, keine unabhängigen Gerichte, keine funktionierende Polizei, noch nicht einmal ein Geburtsregister.
Kapitän Mahadeo Makane sieht durch das Fernglas die aufgeschäumte Gischt heranschießen. Er weiß, was das bedeutet, und setzt einen Notruf ab. Als das kleine offene Motorboot den Tanker schon fast erreicht hat, erkennt der Kapitän sechs Männer, die in die Luft schießen.
Die Marguerite ist fast neu, 25 Millionen Dollar wert. Sie bringt in Asien produziertes Benzol und Öl für die europäische Pharmaindustrie von Porbandar in Indien nach Antwerpen in Belgien. Normalerweise dauert die Fahrt drei Wochen, Zwischenstopps sind nicht vorgesehen. An diesem Abend soll die Marguerite den Golf von Aden passieren, die Meerenge vor Somalia. Weil dort so viele Piraten unterwegs sind, soll der Tanker von einem militärischen Konvoi geschützt werden. Aber hier, so weit draußen in internationalen Gewässern, hat der Kapitän nicht mit einem Angriff gerechnet.
Er fährt Schlangenlinien, um Wellen zu erzeugen, die das Motorboot zum Kentern bringen sollen. Doch weil sie voll beladen ist, bewegt sich die Marguerite nur träge. Vom Motorboot aus feuern die Männer eine Panzerfaust über die Brücke, dann schleudern sie eine Enterleiter an Deck. Die an der Reling festgebundenen Plastikpuppen, die wie Wachleute aussehen sollen, schrecken die Angreifer nicht. Das heiße Wasser, das rund um das Schiff aus allen Rohren spritzt, trifft sie nicht. Über den Stacheldraht, der an der Bordwand befestigt ist, werfen sie eine Decke. Sie klettern darüber, einige in Flipflops, andere barfuß, und ballern mit Kalaschnikows um sich. Nach zehn Minuten rattert ein französischer Militärhubschrauber über dem Schiff. Er kommt zu spät. Wenn die Angreifer einmal an Bord sind, schreitet kein Militär mehr ein – zu groß ist die Gefahr, dass die Besatzung dann sofort erschossen wird.
Die 22 Seeleute der Marguerite haben sich inzwischen auf der Kommandobrücke verschanzt. Die Männer aus dem Motorboot hauen ihre Gewehrkolben gegen die Scheiben, die Seefahrer öffnen die Tür. Ein Pirat schlägt dem Kapitän mit der Hand ins Gesicht und herrscht ihn an: "Fahr nach Somalia, sonst stirbst du!"
In diesem Moment weiß die Crew, dass es schwierig werden wird. Viele Geschichten erzählen sich die Seefahrer in jenen Tagen: von bewaffneten Männern, von horrenden Lösegeldforderungen, von wochen-, manchmal monatelangen Verhandlungen. Piratengeschichten. Aber keiner kann zu diesem Zeitpunkt ahnen, welche Grausamkeiten sich an Bord des Schiffes zutragen werden – Grausamkeiten, die sich aus Gesprächen mit den Opfern und aus den Ermittlungsakten genau rekonstruieren lassen.
Die sechs Männer, die am 8. Mai an Bord der Marguerite klettern, kommen aus Somalia, einem der ärmsten Länder der Welt. Seit 25 Jahren gibt es dort keine reguläre Regierung mehr, der Staat hat sich aufgelöst. Lokale Clans, Piraten und Terroristengruppen haben die Macht unter sich aufgeteilt. In diesem Land ist Ahmed aufgewachsen, so viel ist sicher. Aber schon die Frage, wo genau und unter welchen Umständen er groß geworden ist, kann niemand mit Sicherheit beantworten.
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