Die Aktivistin und Anwältin Aljona Popowa zeigt auf die gegenüberliegende Häuserecke: Sechs Kameras zählt sie alleine hier, davor ein Mast mit Kameras, die den Verkehrsfluss überwachen, gegenüber hängen Rundumkameras der Stadt Moskau. "Sie können genau sehen, dass wir hier stehen. Den genauen Standort, der Platz Twerskaja Sastawa. Und bis auf die Sekunde genau die Uhrzeit."
Der Platz vor dem Weißrussischen Bahnhof ist einer der belebtesten in Moskau. Menschen hetzen von den Vorortzügen oder dem "Aeroexpress" zum Flughafen Scheremetjewo, zur Metro und umgekehrt. Internationale Konzerne haben hier ihren Sitz.
Die Stadt Moskau will Verbrechen bekämpfen, verspricht die "Sichere Stadt". Deshalb soll jede der mehr als 170.000 Überwachungskameras an Gesichtserkennungs-Software angeschlossen werden. Bisher sind damit schon 3000 ausgerüstet. Die Stadt verweist darauf, sie habe im vergangenen Jahr mehr als 3000 Verbrechen mit Hilfe von Gesichtserkennung aufgeklärt.
Einsatz gegen politische Gegner
Popowa überzeugen diese Argumente nicht. "Wir sagen denen: Wenn ihr uns verfolgt, ohne Gerichtsentscheid und ohne unser Einverständnis, dann hört damit auf, ihr habt dazu kein Recht." Popowa befürchtet, dass die Gesichtserkennung auch gegen politische Gegner eingesetzt wird. Sie selbst setzt sich für Frauen in Russland ein, die von ihren Männern geschlagen werden.
An einem Tag protestierte sie mit einem Plakat vor dem russischen Parlament, der Duma. Ein Überwachungsvideo, dessen Herausgabe Popowa erstritten hat, zeigt die Szene. Popowa ist überzeugt, dass die Behörden sie genau auf diesem Video mit Hilfe von Gesichtserkennungs-Software identifiziert haben. Und nicht nur das. "Was wir sicher wissen, ist, dass mit Hilfe der Gesichtserkennung Aktivisten von den Moskauer Protesten festgenommen wurden." Das war im vergangenen Sommer. "Das machen sie wie in China, wo Leute festgenommen werden, die eine andere Meinung haben als die Regierung."
Tatsächlich ist Russland in Sachen Gesichtserkennung noch weit von chinesischen Verhältnissen entfernt. Doch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin hat ehrgeizige Pläne. Gerade erst ließ er sich zitieren, die Bezahlung mit Gesichtserkennung in der Metro solle ab September funktionieren - auch wenn die Metro dem ARD-Studio Moskau das gerade im Test befindliche System noch nicht zeigen wollte.
Ein Startup hat ein System entwickelt, das Bezahlen mit Gesichtserkennung in Restaurants, Cafés und Supermärkten testet. Es gehört zu einer Firma, die vor einigen Jahren mit einem Gesichtserkennungs-System für das soziale Netzwerk "vkontakte", einem russischen Facebook-Pendant, von sich reden machte. Dort konnte man ein beliebiges Foto hochladen und das System suchte in "vkontakte" nach Profilen der auf dem Foto abgebildeten Menschen - über Gesichtserkennung. Die Übereinstimmungen waren beeindruckend. Mittlerweile führt die gleiche Firma vor allem Aufträge für die Regierung und die Stadt aus. Russische Firmen gelten neben chinesischen und israelischen als führend auf dem Gebiet der Gesichtserkennung.
Anwohner finden Gesichtserkennung gut
Mit seinem Konzept der "Sicheren Stadt" stößt Sobjanin bei vielen Moskauer Bürgern auf offene Ohren. "Richtig, dass sie die Kameras aufgestellt haben, damit man die Ganoven erkennen kann", sagt die Rentnerin Ljubow im Moskauer Innenstadtviertel Tschistyje Prudy. "Sonst verhaftet man nach langem Suchen noch einen Unschuldigen!" Die Anwohnerin Tatjana ergänzt: "Wir werden sowieso schon lange observiert über Satelliten oder unsere Handys."
Doch die Gesichtserkennung habe einen großen Unterschied zur Überwachung über das Handy, sagt der freie Journalist Andrej Kaganskich. "Früher konnte man das Handy ausschalten und das System sah dich nicht mehr. Das geht nun nicht mehr, nun ist mein Gesicht mein Identifikator."
Kaganskich wollte wissen, ob die Daten aus dem Gesichtserkennungssystem bei Stadt und Polizei auch sicher sind. "Ich habe mir Zugang zum System der Gesichtserkennung der Stadt erkauft und eine Trefferliste mit meinem Gesicht beschafft." Auf dem Schwarzmarkt im Netz fand er jemanden, der ihm Gesichtserkennungsdaten verkaufte. Er ließ sich einen Auszug mit seinem Gesicht beschaffen. "Es wurden Menschen gefunden, die mir sehr ähnlich sehen."
Einen direkten Treffer mit seinem Gesicht gab es allerdings nicht. "Das liegt vermutlich daran, dass bisher erst 3000 der 170.000 Kameras mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet sind."
Kritikerin gibt nicht auf
Viele der Aufnahmen auf dem Auszug vom Schwarzmarkt stammen von Kameras an Hauseingängen. Auch dort installiert die Stadt Kameras mit Gesichtserkennung, die an das städtische System angeschlossen werden. Der Anwohner Wjatscheslaw wohnt in einem dieser Häuser - auch er begrüßt die Installation. "Das ist gut für die Sicherheit. Und es wissen sowieso alle alles. Auch ohne diese Kameras. Da reicht schon das Internet."
Aktivistin und Anwältin Popowa hat die Stadt vor Gericht verklagt. Die erste Klage wurde im Herbst abgelehnt, doch sie legt Berufung ein. Der Prozesstag habe sie darin bestärkt, weiter zu kämpfen. "Alle haben zugegeben, dass sie Daten sammeln, dass die Technologie eingesetzt wird. Die Gegenseite war nervös, ist ausfällig geworden, hat geschimpft. Wenn man so außer sich ist, dann hat man wohl etwas zu verbergen."
tagesschau
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