Wie nah ist Deutschland dem Unrecht?
Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin als eine "Herrschaft des Unrechts" zu bezeichnen, empörte zu allererst Ostdeutsche wie die Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt: "Für diese Äußerung sollte er sich bei denen entschuldigen, die wirklich Opfer staatlichen Unrechts und von Diktatur sind", sagte sie. Seehofers Wortwahl war bewusst oder unbewusst schlicht zu nah am Begriff des "Unrechtsstaats", der für Nazi-Deutschland und auch für die DDR genutzt wird.
Seehofers Worte empörten aber auch das politische Spektrum links von Pegida und AfD insgesamt und mithin selbst Politiker seiner CSU. In einem Kommentar der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" heißt es dazu, Seehofer habe sich in die Falle der "Gegner des Systems" (Pegida und Co) locken lassen. "Das ist illoyal, unpatriotisch und ein schlechter Dienst an der Demokratie, deren Repräsentanten jederzeit unter der Kontrolle der Rechtsprechung stehen."
Eine Frage bleibt dennoch: Wie ist Seehofers Kritik zu bewerten, wenn man von seiner Wortwahl absieht? Der CSU-Chef kritisiert, dass es derzeit "keinen Zustand von Recht und Ordnung" gebe. Und er ist nicht der Erste, der sich fragt, ob Deutschland sich angesichts der humanitären Krise auf dem Kontinent, in Syrien, in der Welt vielleicht schon ein Stück zu weit von den Fixpunkten seiner Rechtsordnung entfernt hat und ob es womöglich tatsächlich Zeit ist, das durch das Verfassungsgericht überprüfen zu lassen.
Große Zahl illegaler Einwanderer im Land
Seehofers CSU spielt schon seit Monaten mit dem Gedanken einer Klage. Sie beauftragte den ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio, um ein Gutachten dafür zu erstellen. Der kommt zunächst zu dem Ergebnis, dass es eine "große Zahl" an Menschen schafft, in die Bundesrepublik einzureisen, ohne von den Behörden erfasst zu werden. Menschen also, die illegal ins Land kommen. Di Fabio nennt als Beispiel den Zeitraum vom 14. September 2015 bis zum 17. November 2015, in dem die bayerische Polizei mehr als 30.000 unregistrierte, unerlaubt eingereiste Einwanderer aufgriff. Möglich sei das geworden, weil die Bundespolizei "keine lückenlosen Kontrollen an allen Grenzübergängen" vorgenommen habe.
Diese Zahlen zeigen laut Di Fabio, dass "sich die Länder mit einer beträchtlichen Krisensituation bis hin zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit konfrontiert sehen, die nur dann in angemessener Weise bewältigt werden kann, wenn Maßnahmen zur Wiederherstellung einer gesetz- und verfassungsmäßigen Grenzsicherung wieder greifen".
Di Fabio skizziert daraufhin, wie das Signal der Kanzlerin, Flüchtlinge, die in Ungarn ausharrten, ins Land zu lassen, diese Situation provoziert habe. Und die rechtliche Bewertung ihrer Wir-schaffen-das-Politik folgt prompt: "Das Grundgesetz garantiert nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich. Entsprechende unbegrenzte Verpflichtungen dürfte der Bund auch nicht eingehen."
Bundesregierung ist verpflichtet, die Grenzen zu sichern
Ein zentraler Punkt von Di Fabios Argumentation ist, dass Staatlichkeit die Integrität der Staatsgrenzen voraussetze. Die Bundesregierung sei verpflichtet, die Landesgrenzen der Bundesrepublik zu schützen, insbesondere dann, "wenn das europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorrübergehend oder dauerhaft gestört ist". Weil der Bund auch den Ländern zum Schutz der Grenzen verpflichtet sei, wenn die Lage dort durch illegale Einwanderung nicht mehr handhabbar wird, sei möglich, dass der Freistaat Bayern die Bundesregierung per Verfassungsgerichtsurteil dazu zwingt, die Grenzen zu sichern.
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, stimmte in die Kritik ein, unterstellte der Bundesregierung mit ihrer symbolträchtigen Grenzöffnung, ihre Kompetenzen überschritten zu haben. Anders als Di Fabio geht Papier allerdings nicht davon aus, dass Bayern den Grenzschutz einklagen könnte.
Doch trotz der Einschätzung der beiden prominenten früheren Richter und einer Gefolgschaft an Juristen, die die Lage ähnlich bewerten, ist die Frage der Rechtmäßigkeit von Merkels Asylpolitik heftig umstritten. Denn etliche andere Juristen nehmen Di Fabio und Papier als "apokalyptische Ankläger" wahr, die berechtigte Sorgen sorglos "in die Raserei der öffentlichen Debatte" hineingeworfen hätten. Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" warf den beiden vor, widersinnig die polizeiliche Grenzsicherung zum vierten Staatsmerkmal neben Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt erklärt zu haben. "Ein Rückfall in die Eisenzeit des Staatsrechts."
Ähnlich argumentierten die Professoren für öffentliches Recht Jürgen Bast und Christoph Möllers. Sie werfen den Granden vom Verfassungsgericht vor, die Existenz europäischen Rechts, das nationales Recht überlagere, schlicht zu ignorieren.
Dublin wird angewendet
Das Dublin-System, die Grundlage europäischen Asylrechts, führt den Juristen zufolge zwar nicht dazu, dass Flüchtlinge in Europa gerecht verteilt würden, es werde aber angewendet und erfülle den Zweck, für den es geschaffen wurde - dass Menschen in Not Schutz in der EU finden, egal in welchem Mitgliedsstaat.
Ausdrücklich sei in den Dublin-Regeln aus dieser Motivation heraus festgelegt worden, dass ein Mitgliedstaat immer entscheiden kann, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, zum Beispiel, weil er es für unzumutbar hält, sie in einen anderen Mitgliedsstaat zu schicken oder schlicht aus pragmatischen Gründen. Dies ist das sogenannte Selbsteintrittsrecht, von dem Merkel bei ihrer Entscheidung im Spätsommer Gebrauch gemacht hatte.
Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, bezeichnen Bast und Möllers dagegen als klaren Fall des Rechtsbruchs. "Einschlägig ist hier Art. 3 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, wonach die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag prüfen, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellt wird, und zwar ausdrücklich einschließlich solcher Anträge, die `an der Grenze` gestellt werden", schreiben sie in einer Bewertung des Di-Fabio-Urteils in einem Blog-Beitrag.
Flüchtlinge dürfen nicht hin- und hergeschoben werden
Kern dieser Argumentation ist, dass EU-Staaten die Zuständigkeit eines anderen Staates für ein Asylverfahren immer begründen müssten. Es genügt nicht, festzustellen, dass man selbst offensichtlich nicht zuständig ist. Flüchtlinge müssten also zumindest vorübergehend aufgenommen werden. Das solle ganz im Sinne der Dublin-Regeln sicherstellen, dass schutzsuchende Menschen zwischen Staaten, die sich nicht verantwortlich fühlen, hin- und hergeschoben werden.
Die beiden Juristen kommen zu dem Schluss: "Das Gutachten nutzt fragwürdige staatstheoretische Argumente, um den Bund zu europarechtswidrigen Alleingängen anzuhalten."
Christine Langenfeld, die an der Universität Göttingen öffentliches Recht lehrt, argumentiert in vielerlei Hinsicht ähnlich, gibt sich in einem Gastbeitrag für die "Zeit" aber diplomatischer: Sie beschreibt die Frage, wann es zulässig sei, ein europäisches System (wenn es denn gescheitert wäre) hintanzustellen, als schwierige politische Gratwanderung, die sich einer eindeutigen rechtlichen Bewertung entzieht. Vorwürfe des Rechts- oder gar Verfassungsbruchs und darauf gründende sofortige nationale Maßnahmen an der Grenze würden dies verkennen.
Was bedeutet all das nun für eine mögliche Klage? Vor allem, dass man noch nicht weiß, wie sie ausgehen würde. Die Meinungen der Experten gehen schließlich weit auseinander. Deshalb wäre es gut, wenn jemand so eine Klage tatsächlich einreichen würde - um Klarheit zu schaffen. Dass diese Klage notwendig wird, ist dabei an sich ganz sicher noch kein Argument für ein angebliches Staatsversagen. Auch ein Urteil, das Teile von Merkels Politik als nicht rechtmäßig einstuft, wäre nicht mit einem Staatsversagen im Sinne der "Herrschaft des Unrechts" gleichbedeutend. Der politische Meinungsstreit geht nun mal mit juristischen Unsicherheiten einher. Genau dafür gibt es ja die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.
Seehofer geht es aber auch überhaupt nicht darum, für Klarheit zu sorgen. Sein Spiel mit der angeblich geplanten Klage ist genauso populistisch wie sein Gerede von der "Herrschaft des Unrechts". Wenn er wirklich Grund für eine Verfassungsklage sähe oder gar ein Staatsversagen vermuten würde, müsste er diesen seit Monaten angedrohten juristischen Schritt nicht nur schnellstmöglich machen, seine CSU-Minister müssten auch sofort die Bundesregierung verlassen. Würde er dafür sorgen, müsste man ihm zugestehen, dass er eine Debatte anstoßen will, die er für wichtig für die Zukunft Deutschlands hält. Bisher stößt er nur eine Debatte an, die er für wichtig für sich und seine CSU hält.