Sie nennen sich die „Dabangg Dadi“, die „furchtlosen Großmütter“. In bunte Tücher gehüllt sitzen sie auf dem Boden eines Zeltes, das aus Planen zusammengebaut ist. Sie hören den Rednern zu, die nacheinander auf eine kleine Bühne treten. Die Stimmen der Redner plärren aus der Lautsprecheranlage über das Protestgelände. Auf der Bühne sprechen Hindus, Muslime, Männer und Frauen. Doch den Kern des Sitzstreiks bilden die Damen, die meisten von ihnen sind älter.Tag und Nacht bleiben sie in dem Stadtviertel Shaheen Bagh im Süden Delhis. Warum es hauptsächlich Frauen sind? „Das hat nichts damit zu tun, dass die Männer arbeiten müssen und wir mehr Zeit haben. Es ist Mutterliebe, die uns hierher bringt. Unsere Kinder sind an ihrer Universität von der Polizei zusammengeschlagen worden“, sagt Prakash Devi, die mit 50 Jahren zu den jüngeren unter den täglich protestierenden Frauen gehört.
Prakash Devi meint damit die Demonstrationen an der Universität Jamia Millia Islamia, nicht weit von hier. Dort hatte im Dezember die Polizei das Universitätsgelände gestürmt. „Meine Tochter stand in einer Menge Studenten und wurde hin und her geschubst“, sagt Prakash Devi. Zum Glück wurde die Tochter nicht verletzt. Während die Mutter in Shaheen Bagh protestiert, nimmt die Tochter weiter an Demonstrationen ihrer Uni teil. „Ich habe ihr gesagt: Selbst wenn du von der Polizei verletzt wirst und stirbst, dann wenigstens wie eine Soldatin im Kampf“, sagt die Mutter.
Zusammengebundene Polizeigitter
Das Protestgelände reicht von einer Kreuzung an einem stinkenden Fluss über mehrere hundert Meter durch das Viertel, das überwiegend von Muslimen bewohnt wird. Die Demonstranten haben Polizeigitter zusammengebunden, die den Autos den Weg versperren. Der Verkehr steht deswegen still. Ein paar Kinder laufen mit Luftballons herum. Es gibt dampfende Essensstände, die Tee, Popcorn oder Linsengerichte anbieten, ein bisschen wie auf einem Festival.
An einer Bushaltestelle sitzen Demonstranten auf Teppichen, dort können sie Bücher, Zeitungen und politische Pamphlete lesen. Bis zwei Uhr Nachts werden Reden gehalten. Danach werde aufgeräumt, geschlafen. Am nächsten Tag gehe es wieder los, berichtet Prakash Devi. Einen so lang anhaltenden Widerstand hat es in Indien unter Ministerpräsident Narendra Modi bisher noch nicht gegeben. Seit rund 50 Tagen geht das nun so. Die Proteste begannen, nachdem die Zentralregierung in Delhi ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet hatte.
Dieses Gesetz sieht vor, dass Migranten aus den Nachbarländern Afghanistan, Bangladesch und Pakistan in Zukunft leichter eingebürgert werden können. Die Neuregelung nutzt Hindus, Christen, Buddhisten, Jains, Sikhs und Parsen, die vor dem 31. Dezember 2014 nach Indien gekommen sind. Es sind Angehörige von Religionen, die laut der Regierung in Delhi in diesen Ländern der Verfolgung ausgesetzt seien.
Nicht mit eingeschlossen sind allerdings Muslime, die mit rund 200 Millionen die größte Minderheit sind. Das Gesetz wird deshalb von vielen in Indien als Diskriminierung der größten Minderheit im Land verstanden. Kritiker sehen darin einen weiteren Schritt der hindunationalistischen Regierung, aus dem multikulturellen und multireligiösen Indien einen Hindu-Staat zu machen. Landesweit hatten Zehntausende bis Hunderttausende Menschen an den Protesten gegen das Gesetz teilgenommen. Dabei war es auch zu Gewalt gekommen. In den Nordostprovinzen starben mehr als zwei Dutzend Menschen. In Delhi kam es an mehreren Universitäten zu Übergriffen.
Gleichheit vor dem Gesetz
Prakash Devi erklärt, warum das Gesetz aus ihrer Sicht so viel Aufruhr ausgelöst hat. „Das Gesetz verstößt gegen die Verfassung, die uns so am Herzen liegt“, sagt sie. Zu den Grundsätzen der Verfassung gehört auch die Gleichheit vor dem Gesetz, ungeachtet der Religion, Ethnie oder Kaste. Die Demonstranten berufen sich in ihrem Protest deshalb auch auf den Vater der Nation, Mahatma Gandhi. Er hatte sich für die Versöhnung von Hindus und Muslimen eingesetzt.
Die Demonstranten befürchten, dass unter der Regierung von Narendra Modi und seiner hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) das Leitprinzip der Einheit in Vielfalt über Bord geworfen werden soll. „Sie wollen aus Indien eine Nation der Hindus machen“, sagt Prakash Devi. Tatsächlich hat Innenminister Amit Shah schon klargemacht, dass der „Citizenship Amandment Act“ (CAA), wie das neue Gesetz offiziell heißt, nur ein Teil eines größeren Plans ist.
faz.net
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