Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen hat einen Essay zur Klimakrise geschrieben - und einen sehr selbstbewussten obendrein. "Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?" fragt der Autor des Ende Januar auf Deutsch erschienenen Titels. Wahrscheinlich weil die Aussage so schön im offenen Widerspruch zur Mehrheitsmeinung steht, hat der Verlag noch eine weitere Zeile auf das Cover drucken lassen: "Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können"
Wer sich - zumal als Romanautor und nicht als Wissenschaftler - zutraut, hochkomplexe Vorgänge so plakativ und abschließend zu bewerten, muss sich die Frage gefallen lassen, wie seriös seine Aussagen sind. Die Antwort, so viel kann ich vorwegnehmen, fällt nicht besonders schmeichelhaft aus.
Franzen liebt Scheingegensätze. Der Krieg gegen den Klimawandel lässt sich in der Argumentation entweder noch gewinnen, oder er ist schon verloren - Franzen behauptet Letzteres. Doch in der Realität geht es um Schadensbegrenzung und die Sicherung einer möglichst guten, mindestens aber annehmbaren Zukunft für unsere Kinder und Enkel, und nicht um Schwarz oder Weiß, um Gewinnen oder Verlieren.
Für Franzen steht Klimaschutz gegen Naturschutz - auch wenn das Gemeinsame wesentlich größer ist als die vorhandenen und durch Kompromisse lösbaren Zielkonflikte, etwa bei der Windenergie.
Franzen befeuert eine uralte Scheindebatte
Für Franzen können wir eine Milliarde Dollar entweder für Emissionsminderung oder für Katastrophenvorsorge und Entschädigungszahlungen ausgeben – die uralte Scheinalternative "Vermeiden oder Anpassen". Doch beides ist notwendig, wird auch getan und ist finanzierbar. Franzen ignoriert dabei die wirtschaftliche Realität, dass Klimaschutz nach vielen ökonomischen Studien billiger ist als kein Klimaschutz – jede klug investierte Milliarde Dollar für Klimaschutz vermeidet Schäden von mehr als einer Milliarde Dollar. Das Problem ist nur: wer in Klimaschutz investiert, erspart diese Kosten nicht sich selbst, sondern der Welt allgemein. Daher braucht es ein globales Abkommen. Aber das gibt es ja zum Glück – wir alle sollten uns jetzt dafür einsetzen, dass es auch umgesetzt wird.
Das Problem mit Franzens Essay geht jedoch tiefer und beginnt schon bei der Grundthese. Die lautet so:
"Unsere Atmosphäre und unsere Ozeane können nur ein begrenztes Maß an Hitze verkraften, bevor der Klimawandel, verstärkt durch diverse Rückkoppelungsschleifen, völlig außer Kontrolle gerät. Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger sind sich einig darin, dass dieser kritische Punkt erreicht ist, wenn die globale Durchschnittstemperatur um mehr als zwei Grad Celsius ansteigt (vielleicht etwas mehr, vielleicht auch etwas weniger)."
Eine solche "Schwelle zur Katastrophe", wie Franzen es nennt, gibt es aber nicht. Die angeblich wissenschaftliche Aussage, dass wir bei zwei Grad Celsius globaler Erwärmung mit Sicherheit einen Kipppunkt überschreiten, bei dem das Klima "völlig außer Kontrolle gerät", ist schlicht unzutreffend. Franzen liefert auch keinerlei Belege für diese Behauptung. Ich kenne kein einziges Klimamodell, in dem beim Überschreiten von zwei Grad Erwärmung – oder irgendeinem anderen Temperaturwert – die weitere globale Erwärmung zum unaufhaltsamen Selbstläufer wird, und ich kenne auch keine derartige Aussage in den Berichten des Weltklimarats IPCC.
Schon als Franzens Essay im letzten September im "New Yorker" in den USA erschien, haben sogleich viele meiner Forscherkollegen darauf hingewiesen, dass die Grundaussage wissenschaftlich falsch ist. Das empfehlenswerte Webportal ClimateFeedback.org, das die fachliche Qualität von Medienberichten zum Klima bewertet, hat Franzens Aufsatz von fünf Experten begutachten lassen, die einhellig zum Urteil kamen: falsch und irreführend. Die NASA-Kollegin Kate Marvel schrieb in "Scientific American": "Wir sind nicht verloren, egal was Jonathan Franzen sagt".
Leider hat sich Franzen anscheinend kaum mit den für jedermann frei verfügbaren IPCC-Berichten beschäftigt. Die zeigen nämlich klar auf, dass die Erderhitzung immer schlimmere Folgen haben wird, je weiter sie voranschreitet. Der Meeresspiegel steigt schneller, je wärmer es wird, weil das Kontinentaleis dann schneller schmilzt. Hitzewellen werden immer schlimmer. Immer größere Wassermengen kommen bei Extremniederschlägen vom Himmel, weil warme Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann. Tropische Wirbelstürme entwickeln mehr Zerstörungskraft, angefacht von der Wärme des Meeres. Gefahr und Ausmaß verheerender Waldbrände – wie aktuell in Australien - werden immer größer.
Grundannahme bei Klimaschutz offenbar nicht verstanden
Der IPCC hat in einem Sonderbericht detailliert die Unterschiede zwischen 1,5 Grad und zwei Grad Erwärmung herausgearbeitet, und nicht ohne Grund haben sich alle Staaten – auch die USA, Saudi Arabien, China und Russland – im Pariser Abkommen verpflichtet, "Anstrengungen zu unternehmen, um die globale Erwärmung unter 1,5 Grad zu halten" – weil wir schon jetzt nach 1,2 Grad globaler Erwärmung heftige Folgen erleben. Eine schlichte Risikoabwägung.
Die Klimaziele beruhen auf der Erkenntnis, dass die Folgen des Klimawandel drastisch zunehmen, je stärker sich der Planet erwärmt - nicht jedoch auf der Annahme, dass beim Überschreiten eines konkreten Schwellenwerts die Apokalypse hervorbricht, während vorher alles in bester Ordnung war.
Freilich gibt es eine ganze Reihe von kritischen Punkten im Klimasystem, bei denen Teilsysteme (wie das Golfstromsystem oder die Eisschilde auf Grönland und der Antarktis) unaufhaltsam ihre Stabilität verlieren. Die Physik dahinter ist seit Jahrzehnten bekannt. Doch hier gilt: es gibt viele dieser Kipppunkte, und die Gefahr, sie zu überschreiten, steigt mit der globalen Temperatur (siehe Grafik). Auch dies ist in die Risikoabwägung eingeflossen, die die Delegationen aller Länder bei den jahrzehntelangen UN-Klimaverhandlungen getroffen haben.
Zwar gibt es bei manchen Forschern – mich eingeschlossen – die Befürchtung, mehrere dieser Kipppunkte könnten sich in einer Kaskade gegenseitig auslösen wie Dominosteine und zu einer katastrophalen Destabilisierung des Klimas führen. Doch wird dies in der Fachwelt als "worst case" Risiko diskutiert, ähnlich wie das Risiko eines GAU in einem Kernkraftwerk, und keinesfalls als unausweichliches Schicksal. Die konkrete Abschätzung der verstärkenden Rückkopplungen in dem "Heißzeit"-Artikel einer prominenten Forschergruppe um meinen australischen Kollegen Will Steffen, der 2018 einigen Medienwirbel auslöste, kam zum Ergebnis, dass dadurch bis zum Jahr 2100 weniger als ein halbes Grad zusätzlicher Erwärmung zu erwarten wäre. Dieses Risiko ist schlimm genug – doch mit Franzens Behauptung einer inzwischen unausweichlichen Katastrophe hat es nichts zu tun.
Fossile Energien werden jährlich mit 5000 Milliarden Dollar subventioniert
Von Franzen geflissentlich ignoriert werden auch die materiellen Kräfte, die ein Vorankommen beim Klimaschutz massiv behindern: Fossile Energien werden laut einer Studie des Weltwährungsfonds noch immer mit mehr als 5.000 Milliarden Dollar jährlich direkt und indirekt (durch nicht eingepreiste Folgeschäden, die die Allgemeinheit trägt) subventioniert. Das sind atemberaubende 6,5 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, oder rund 150 Dollar Subvention pro in die Luft geblasener Tonne CO2. Dieses Geld könnte durch einen CO2-Preis (Verursacherprinzip!) abgeschöpft und für Klimaschutz und Vorsorgemaßnahmen eingesetzt werden.
Solange die Fossilen derart subventioniert werden, kann niemand behaupten, wir hätten ernsthaft versucht, aus der CO2-intensiven Energienutzung auszusteigen. Daher ist Franzens Pessimismus verfrüht, die Umsetzung des Pariser Abkommens sei ohnehin nicht zu schaffen. Immerhin gibt es ja durchaus viele Zeichen der Hoffnung, nicht zuletzt angestoßen durch die weltweite Schülerbewegung Fridays For Future. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos letzten Monat habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Finanzwelt endlich aufwacht und die Risiken der Klimakrise zu begreifen beginnt.
Die meisten OECD-Staaten haben in den vergangenen zwanzig Jahren ihre CO2-Emissionen stärker reduziert als Deutschland. In Europa sind die CO2-Emissionen aus der Stromerzeugung allein im vergangenen Jahr um 12 Prozent gefallen, weil der gestiegene (immer noch sehr moderate) Preis im EU-Emissionshandel die Kohle aus dem Markt drängt und der Ausbau von Ökostrom sie ersetzt. 2019 haben die erneuerbaren Energien in der EU mit 35 Prozent erstmals mehr Strom als Kohlekraftwerke geliefert.
Zugegeben, das alles geht noch zu langsam und die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad ist nur noch mit einer politisch-ökonomischen Wende hin zu wirklich entschlossenem Klimaschutz (also einem sozialen Kipppunkt) und einer guten Portion Glück zu schaffen. Doch die Erwärmung unter 1,7 oder 1,8 °C zu halten ist durchaus realistisch, und dafür zu kämpfen lohnt sich – auch wenn Problemverleugnung oder Defätismus sicher die bequemeren und weniger anstrengenden Haltungen sind.
spiegel
Tags: