„Wir sind sehr besorgt über die neuen russischen Raketensysteme“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, als er am Mittwoch die Verteidigungsminister der 29 Mitgliedstaaten im Brüsseler Hauptquartier empfing. Er bezog sich nicht nur auf die russischen Marschflugkörper SSC-8, die Ziele in Europa treffen können und derentwegen Amerika den INF-Vertrag gekündigt hat. Stoltenberg sorgt sich ebenso wegen der neuen Hyperschallwaffen, die Moskau entwickelt und teilweise schon stationiert hat. Man werde darüber zu sprechen haben, wie die Allianz angesichts dieser Bedrohungen eine „glaubwürdige Verteidigung“ aufrechterhalten könne, sagte er.
Ein hoher Nato-Beamter sprach am Mittwoch noch deutlicher aus, was die Allianz umtreibt. Bei Kurz- und Mittelstreckensystemen übertreffe Russland inzwischen „bei weitem“ die Fähigkeiten der Allianz. Es gebe da ein „großes Ungleichgewicht“ und eine „systemische Ungleichheit“. Das sind gewichtige Worte, denn damit gesteht die Allianz ein, dass das „Gleichgewicht des Schreckens“ fraglich geworden ist - so wird die Fähigkeit der Atommächte genannt, sich jederzeit gegenseitig zu vernichten.
Mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit
Die SSC-8-Marschflugkörper fliegen zwar nur so langsam wie ein normales Verkehrsflugzeug und haben eine Reichweite von 1800 Kilometern. Das verschafft der Nato immerhin eine Vorwarnzeit von bis zu zwei Stunden. Aber diese Systeme sind wegen ihrer variablen Flugbahn nur schwer aufzuspüren. Noch gefährlicher ist die neue Luft-Boden-Rakete Kinschal, die für die russischen Nuklearbomber entwickelt wurde. Diese Rakete wird im Flug ausgeklinkt und steigt dann auf eine Höhe von 18 bis 20 Kilometern. Dabei soll sie zehnfache Überschallgeschwindigkeit erreichen – und würde ihr Ziel binnen weniger Minuten treffen. Das überfordert die heutige Raketenabwehr aller Nato-Staaten.
Dasselbe gilt für den Gleitflugkörper Awangard. Er wird mit einer Interkontinentalrakete in den Weltraum geschossen; zunächst mit der SS-19, ab 2022 mit der Neuentwicklung Sarmat. Die Rakete selbst kann zwar geortet werden, doch sobald sich der Gleiter von ihr trennt, „wissen wir erst wieder von ihm, wenn es eine Detonation gegeben hat“, sagte der Nato-Beamte. Das extrem hitzebeständige Objekt soll sich mit mehr als zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit zu seinem Ziel bewegen und außerdem Wellen fliegen können.
Russland hat Ende Dezember das erste Raketenregiment mit Awangard ausgestattet; die Nato hält das für glaubwürdig. Moskau bot den Amerikanern sogar Inspektionen an, denn das System fällt unter den New-Start-Vertrag zur Begrenzung strategischer Angriffswaffen. Der Vertrag läuft im nächsten Jahr aus, der Kreml will ihn verlängern, die meisten Nato-Verbündeten wollen das ebenfalls. Doch hat sich Präsident Trump bisher nicht festgelegt.
Die Nato hat bisher nur eines entschieden: „Wir werden keine neuen, landgestützten nuklearen Mittelstreckensysteme in Europa stationieren“, bekräftigte Stoltenberg am Mittwoch. Die Allianz will ein neues Wettrüsten wie in den achtziger Jahren verhindern, allerdings wird das Problem des Ungleichgewichts so nicht gelöst. Als denkbar gilt die Stationierung konventioneller Mittelstreckensysteme in Europa, die von den Vereinigten Staaten entwickelt werden. Seit Anfang Februar haben die Amerikaner außerdem ihre ballistischen Raketen auf den U-Booten mit einem kleineren Atomsprengkopf ausgestattet, um den Russen bei taktischen Waffen wenigstens etwas entgegenzusetzen.
Der Kongress debattiert außerdem über die Entwicklung eines nuklear bestückbaren Marschflugkörpers für die Atom-U-Boote. Das liefert noch keine Antwort auf die Herausforderung durch Hyperschall-Waffen, doch tut sich auch dort etwas. Das Pentagon schrieb gerade die Entwicklung eines neuartigen Abfangkörpers aus. Und die US Air Force gab am Dienstag bekannt, dass sie einen Überschallflugkörper für ihre Kampfflugzeuge baut. Der soll allerdings nur konventionell bewaffnet sein.
faz.net
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