Was ist nur mit all den Kindern passiert?

  15 Februar 2016    Gelesen: 1036
Was ist nur mit all den Kindern passiert?
Fast 4800 allein reisende Flüchtlingskinder sind in Deutschland als vermisst gemeldet. Die Behörden haben jeden Kontakt zu ihnen verloren. Beobachter befürchten das Schlimmste.
Es ist schon nach acht Uhr, ein kalter und ungemütlicher Abend in Berlin-Kreuzberg. Auf einer der Partymeilen des Szenekiezes drängeln sich jede Menge Studenten und Touristen vor einer Dönerbude. Nebendran steht ein dunkelhäutiger Junge, saugt unsicher an einer Zigarette und schaut dem Treiben zu. Er komme aus Pakistan, sagt er in gebrochenem Deutsch, und sei 16 Jahre alt. Aber wie er da steht in seinem mit Pailletten verzierten Hemd, so schlaksig, mit kindlich zartem Teint, sieht er jünger aus.

Ramzan ist einer von Tausenden minderjährigen Flüchtlingen, die ohne ihre Eltern die gefährliche Reise nach Europa angetreten haben und nun ohne jeden familiären Beistand in Deutschland sind. Vor sieben Monaten sei er in Berlin angekommen, erzählt er. Doch aufgrund des großen Ansturms von Flüchtlingskindern war in den Kinderheimen kein Platz mehr für ihn.
Und so wohnt der Pakistani nun zusammen mit mehr als 40 ebenfalls unbegleiteten Jungs aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in einem Hostel direkt an einem der Touristen-Hotspots Berlins – und nutzt jede Chance, sich am Security-Mann am Eingang vorbeizuschlängeln und selbst zu vorgerückter Stunde in das Großstadtleben einzutauchen. "Is` alles gut hier", versichert er. Auch das fällt schwer, ihm zu glauben.
Rein statistisch betrachtet spricht einiges dafür, dass Ramzan oder einer seiner Mitbewohner irgendwann als vermisst gemeldet wird. Mehr als 60.000 minderjährige Flüchtlinge halten sich derzeit ohne erwachsene Begleiter in Deutschland auf, und laut Bundeskriminalamt hat sich zu fast 4800 von ihnen jede Spur verloren. Allein in Berlin sollen 400 Migrantenkinder verschwunden sein. Europaweit, heißt es bei Europol, seien es sogar 10.000.
Was aber ist der Grund für dieses unheimliche Verschwinden? Ist hier etwa "ein gut organisiertes, paneuropäisches kriminelles Netzwerk" am Werk, das sich "auf die Ausbeutung von Flüchtlingen spezialisiert hat", wie Brian Donald, Stabschef von Europol, warnt? Natürlich würden nicht alle Verschwundenen kriminell ausgenutzt, sagt er. "Aber wir wissen einfach nicht, wo sie sind, was sie tun oder bei wem sie sind."

Täglich könnten noch Hunderte Fälle hinzukommen

Zumindest in Deutschland ist die hohe Zahl vermisster Flüchtlingskinder vor allem eines: Ausdruck der Überforderung und des Kontrollverlusts der deutschen Behörden angesichts des Massenansturms von Flüchtlingen. Wer sich ein Bild von dem Chaos machen will, muss bloß in den Jugendämtern nachfragen, zum Beispiel in Kiel: Waren in der Stadt an der Förde von 2010 bis 2014 im Schnitt gerade mal 33 unbegleitete Flüchtlingskinder pro Jahr angekommen, die in Obhut genommen werden mussten, schnellte die Zahl im vergangenen Jahr plötzlich auf 672 hoch.
Allein die schiere Menge war eine "gigantische Herausforderung, wie wir sie noch nie erlebt haben", sagt Jugendamtsleiterin Marion Muerköster. Hinzu kamen Mängel bei der Registrierung: "Wer bei uns landet, hat sich auf dem Weg hierher vielleicht schon in Dortmund oder Frankfurt registriert", so Muerköster. "Da ist es schwierig, den Überblick zu behalten."
Qua Auflage sollen die Minderjährigen zwar an dem Ort bleiben, an dem sie zuerst aufgenommen wurden. "Aber viele schert das nicht", sagt die Amtsleiterin. "Sie ziehen auf eigene Faust weiter, oft mit dem Ziel, sich zu Verwandten durchzuschlagen." In der Regel kommen die Abtrünnigen dort auch unversehrt an. Da die Jugendämter verloren gegangene Flüchtlinge aber nach 24 Stunden Abwesenheit bei der Polizei melden müssen, gehen sie in die Statistik als Vermisste ein. Die Zahl von 4800 sei daher nicht mehr als eine Momentaufnahme, heißt es denn auch beim BKA. "Täglich könnten Hunderte von Fällen hinzukommen, während gleichzeitig hundert andere als erledigt gelöscht werden."
Tatsächlich ist die Gruppe der allein reisenden minderjährigen Flüchtlinge für die Behörden nur schwer zu kontrollieren. Mehr als 90 Prozent sind Jungen, die meisten von ihnen Afghanen, Iraker und Syrer, das Gros ist zwischen 13 und 17 Jahre alt. Sie haben sich oft monatelang allein oder in Gruppen durchgeschlagen.

Oft machen sich die Jugendlichen einfach auf den Weg

Von den Erfahrungen in ihrer Heimat und auf der Flucht seien sie oft schwer traumatisiert, sagt eine Sozialarbeiterin aus Berlin – zugleich seien sie es gewohnt, auf sich allein gestellt zu sein. "Entsprechend schwierig ist es, sie auf Regeln einzuschwören."
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig (SPD), fordert eine intensivere Befragung minderjähriger Flüchtlinge durch die Behörden. So müsse die hohe Zahl der Vermisstenfälle reduziert und geklärt werden, was ihr Ziel sei und warum sie dorthin wollten. Andernfalls machten sich solche Jugendlichen allein auf den Weg zu Freunden, Landsleuten oder Verwandten. "Dadurch können die Behörden schnell den Überblick verlieren, was mit den minderjährigen Flüchtlingen passiert", sagt Rörig.

Was das in der Praxis heißt, zeigt der Fall des Marokkaners Hamdi. Nachdem er im Sommer 2015 in einer Großstadt im Südwesten Deutschlands in eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge eingezogen war, teilte er seinen Betreuern mit, dass er eigentlich 20 Jahre alt sei. Auch auf Facebook gibt er sein wahres Alter an. Weil Papiere fehlten, hatte dies aber keine Konsequenzen für ihn. Nicht lange nach seiner Ankunft mussten ihn seine Betreuer zum ersten Mal als vermisst melden.
Hamdi war mit Freunden nach Berlin gefahren, drei Tage später kehrte er zurück. Dank Facebook konnten seine Betreuer zwar nachvollziehen, dass sich der junge Mann zusammen mit drei Kumpels zum Champions-League-Finale nach Berlin aufgemacht hatte – mit gestohlenen Karten. "Wenn sie 24 Stunden lang nicht auftauchen, müssen wir sie trotzdem als vermisst melden", sagt sein Sozialarbeiter.
Von da an ist der Weg durch die Bürokratie eigentlich vorgeschrieben. Von den Polizeidienststellen gehen die Daten verschwundener Flüchtlingskinder an die Vermisstenstellen der Länder und von dort weiter ans BKA – wo die Betreffenden im gesamten Schengenraum zur Fahndung ausgeschrieben werden. Doch da das Gros allein reisender Jugendlicher keine Ausweise hat, variieren die Schreibweisen der Namen oft immens, sodass der Datenabgleich schwierig ist.
Dem will die Regierung nun mit einem neuen Gesetz beikommen. "Ein einheitliches Registrierungssystem muss hier schnell erfolgen", sagt Ralf Kleindiek, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium. So könnten die meisten Mehrfachzählungen ausgeschlossen und die Wege der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge belastbar erfasst werden.
Bis das so weit ist, bereitet der mangelnde Überblick vor allem jenen Sorge, die von Amts wegen für das Kindeswohl zuständig sind. Monika Herrmann etwa, Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, will sich mit dem Verweis auf das Chaos bei der Ersterfassung nicht zufriedengeben. "Man stelle sich vor, aus unseren Einrichtungen in Berlin würden 400 deutsche Jugendliche kurzerhand verschwinden", sagt die Grünen-Politikerin. "Was wäre da los?" Mit gutem Grund habe der Gesetzgeber verfügt, dass für unbegleitete Flüchtlingskinder derselbe Schutz gelte wie für auf sich selbst gestellte Teenager hierzulande.
Schon bevor minderjährige Flüchtlinge in die Vermisstenstatistik eingehen, läuft allerdings einiges nicht so, wie es laut Gesetz laufen müsste. Zwar steht den Migrantenkindern nach dem ersten Aufgriff ein Platz in der Jugendhilfe zu, wo sie einen Vormund vermittelt bekommen und rund um die Uhr von ausgebildetem Personal betreut werden. Angesichts der großen Nachfrage fehlen aber nicht nur Fachkräfte und Vormunde.

Spuren deuten auch auf organisiertes Verbrechen hin

Es mangelt auch an Plätzen in Kinderheimen oder vergleichbaren Unterkünften. In der Not weicht manche Behörde auf Hostels wie das in Kreuzberg aus, wo die Jugendlichen zwar von Security-Diensten bewacht und auch von Sozialarbeitern begleitet werden. "Viel zu oft werden sie aber auch sich selbst überlassen", kritisiert eine Berliner Sozialarbeiterin.
Also ziehen 15- oder 16-jährige Migrantenkinder wie Ramzan mitunter unbeaufsichtigt durch einen Kiez wie Berlin-Kreuzberg. Und werden so leicht zum möglichen Ziel für alle Formen von Missbrauch. Mechthild Maurer von "Ecpat", der "Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung", hat Hinweise darauf, "dass vermisste unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die Fänge von Menschenhändlern geraten sein könnten und sexuell ausgebeutet werden".
Die Jugendlichen können aber auch aus eigenen Stücken auf die schiefe Bahn geraten. Bei der Staatsanwaltschaft in Braunschweig etwa laufen derzeit 36 Verfahren, bei denen 47 unbegleitete junge Flüchtlinge als Tatverdächtige geführt werden. Meist geht es dabei um Diebstähle, manchmal um Körperverletzungen oder Rauschgiftdelikte.
Auch wenn das BKA bislang keine Belege hat, dass allein reisende Migrantenkinder Opfer von Verbrechen geworden sind: Manch einer, der tagtäglich mit ihnen arbeitet, erzählt von Schicksalen, die das Gegenteil befürchten lassen. Wie die Geschichte der 13-jährigen Mariam, die in einem Mädchenwohnheim in Brandenburg lebt. Nach fast vier Jahren auf der Flucht sei die junge Syrerin vor vier Monaten dort gelandet, berichtet ihre Sozialarbeiterin. "Wären wir nicht so eine kleine Einrichtung und könnten sie so engmaschig begleiten, wäre ihr Martyrium womöglich auch in Deutschland weitergegangen."
Nachdem der Vater erschossen wurde, sei das Mädchen mit Mutter und Schwester aus ihrer Heimatstadt Aleppo in die Türkei geflohen und habe sich über die Viermillionenstadt Izmir "allein mit 50 anderen Kindern" im Schlauchboot nach Griechenland aufgemacht. Nur zögerlich habe das Kind von den Erlebnissen auf der Flucht berichtet, sagt die Sozialarbeiterin: von "bösen Ländern", prügelnden Polizisten, Leuten, die ihr "Schlimmes angetan" hätten. "So ausdrücklich sagt sie das nicht, aber der Verdacht liegt nahe, dass sie sexuell missbraucht wurde", sagt ihre Betreuerin. Und dass ihre Peiniger ihr womöglich folgten.
Anfangs seien wiederholt Männer zu der Unterkunft gekommen, die nach Mariam gefragt hätten – woraufhin sie panisch reagiert habe. "Wir haben Hinweise, dass hier Zuhälter, mit denen das Kind womöglich auf der Reise in Kontakt kam, versuchten, auf das Mädchen zuzugreifen." Drei vergleichbare Fälle – von zwei Syrerinnen und einer Somalierin – hat das Mädchenwohnheim in den vergangenen zwei Jahren der Polizei übergeben.

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