Als der Brexit Anfang Februar durch war, hoffte Stefan Nüsse auf ein paar entspanntere Wochen. Doch jetzt muss der Prokurist der Spedition M+F aus dem niedersächsischen Nordhorn schon wieder ein Problem nach dem nächsten lösen. Denn das Coronavirus grassiert in Europa. Und es sorgt in der Transportbranche für noch mehr Verunsicherung als der britische EU-Ausstieg.
Plötzlich machen Europas Staaten Außengrenzen dicht: in der Hoffnung, die Epidemie irgendwie einzudämmen. Nüsse hat dafür grundsätzlich Verständnis. Aber: "Wir mussten jetzt unsere Kundschaft informieren, dass es zu erheblichen Verzögerungen kommen kann und wir Lieferzeiten nicht mehr garantieren können."
Am Montag hat auch Deutschland begonnen, sich abzuschotten. Seit 8 Uhr morgens schränkt der Staat die Einreise für Menschen aus Österreich, Frankreich, Dänemark, Luxemburg und der Schweiz massiv ein. Ab Dienstagnachmittag werden die Außengrenzen der EU geschlossen. Zugleich aber soll der Waren- und Güterverkehr möglichst ungehindert weiterfließen. Schließlich kann die ohnehin angeschlagene Wirtschaft gerade nichts weniger gebrauchen als eine Unterbrechung der fein austarierten, grenzüberschreitenden Lieferketten. Wenn Rohstoffe, Vorprodukte oder Bauteile nicht rechtzeitig ankommen, steht womöglich die ganze Produktion still. Und: Die Versorgung der verunsicherten Bürger in der Krise soll auch nicht in Gefahr geraten.
Strenge Kontrollen für die eine Gruppe und freie Fahrt für die andere Gruppe: Kann das funktionieren?
An Tag Eins ist nur eines klar: Nichts ist klar. Offensichtlich gehen die für die Einreisekontrollen zuständigen Polizeidirektionen der einzelnen Bundesländer unterschiedlich mit der neuen Lage um.
An Bayerns Grenzen zu Österreich wird nach der Art der Fahrzeuge getrennt. "Der Warenverkehr kann durchfahren, der Personenverkehr wird kontrolliert", sagt Matthias Knott von der Bundespolizeidirektion München. Das heißt: Fast alle Lkw aus der EU werden durchgewunken - und alle Pkw werden überprüft. Bei Kleintransportern, Lieferwagen oder anderen Fahrzeugen checkt die Polizei, ob es sich um einen Personen- oder einen Warentransport handelt. Um Staus vor dem Kontrollpunkt möglichst zu vermeiden, sollen sich die Fahrer in unterschiedliche Spuren einordnen. Auf der Autobahn A8 von Salzburg nach München, auf der A3 bei Passau und auf der A93 bei Kiefersfelden wurden schon im Verlauf der Flüchtlingskrise vor der Grenze solche Spuren mit Ableitwänden und Kontrollpunkte eingerichtet. Im Ergebnis staute sich am Montagvormittag vor einigen dieser Übergänge zwar der Verkehr, die Wartezeiten betrugen aber oft weniger als eine Stunde.
An den Grenzen der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland zu Frankreich haben Lkw-Fahrer hingegen selten freie Fahrt. "Im Prinzip sollte jeder Lkw angehalten werden", sagt Christian Altenhofen, Sprecher der zuständigen Bundespolizeidirektion Koblenz. Zwar gebe es keine standardisierten Kontrollen; wenn ein Fahrer etwa den Kontrolleuren persönlich bekannt sei oder schon mehrmals vorher am selben Tag gecheckt worden sei, werde er durchgewunken. Aber der Regelfall sei das nicht. Zudem gibt es organisatorische Probleme. Nach fast 30 Jahren Schengen-Abkommen fehlt vielerorts die Infrastruktur für Kontrollen - sowie oft auch der Platz, mehrere Spuren einzurichten. Entsprechend zäh fließt der Verkehr voran. "Es gibt Rückstaus, die merkt man sehr deutlich", sagt Altenhofen. Insbesondere zu Stoßzeiten könne es erhebliche Wartezeiten geben.
Auch Baden-Württemberg kontrolliert die meisten Lkw an seinen Übergängen zu Frankreich. Die Fahrer müssten Ladepapiere vorzeigen, sagte Daniel Rosin von der zuständigen Bundespolizeidirektion in Böblingen. Durchfahren sei nicht der Normalfall. Die Kontrollen haben den Verkehrsfluss teils massiv beeinträchtigt. Auf der Europabrücke von Straßburg nach Kehl wurde zudem der Verkehr auf eine Spur reduziert. Hier - wie auch an anderen Grenzübergängen - gab es "teilweise lange Rückstaus", sagte Rosin. Im badischen Iffezheim etwa betrug die Verzögerung geschätzte drei Stunden.
Für die Kontrolle des Warenverkehrs aus dem Nicht-EU-Land Schweiz ist der Zoll zuständig. Hier habe sich durch die neue Lage nicht viel geändert, sagt Mark Eferl vom Hauptzollamt Singen. "Jeder Lkw-Fahrer wird zollrechtlich von uns abgefertigt, wenn er aus der Schweiz kommt." Gesundheitskontrollen der Fahrer gebe es allerdings keine. Dafür sei der Zoll nicht zuständig. Am Montag gab es immer wieder Staus an den Schweizer Grenzübergängen. Bis zum Nachmittag betrugen sie laut dem Baden-Württemberger Polizeisprecher Rosin aber weniger als eine Stunde.
Staus von bis zu 80 Kilometern Länge
Speditionsmanager Nüsse sieht die grenzüberschreitenden Lieferketten in Gefahr - gerade weil Deutschland kein Einzelfall ist. "Wir haben von Subunternehmern gehört, dass die Österreicher den Einreiseverkehr aus Italien extrem kontrollieren. Am Brenner gab es 80 Kilometer Rückstau. Das ist schon kritisch."
Auch der Bundesverband des Groß- und Außenhandels berichtet von Staus mit bis zu 80 Kilometern Länge. Hieraus könnten "Abwicklungszeiten von bis zu drei Tagen resultieren", erklärte ein Sprecher auf Anfrage des SPIEGEL. In Tschechien seien mittlerweile Gebiete für Frachttransporte komplett gesperrt worden. "Dies sind bislang nur Einzelfälle, sodass ein grundsätzlicher Versorgungsengpass auch durch die Grenzschließungen zunächst nicht zu erwarten ist", sagte der Verbandssprecher. "Es bleibt dennoch festzuhalten, dass vor dem aktuellen Hintergrund eine einheitliche europäische Lösung hilfreicher wäre als nationale Einzelregelungen und Protektionismus."
Die EU-Kommission veröffentlichte am Montag Leitlinien für den Güterverkehr im Schengenraum. Unter anderem empfiehlt sie den Staaten, an den Grenzen separate Fahrspuren für den Lkw-Verkehr zu reservieren. "Wenn wir jetzt nicht handeln, werden Läden Schwierigkeiten bekommen, ihre Lager mit bestimmten Produkten zu füllen", hatte Kommissionschefin Ursula von der Leyen schon am Sonntag in einem Video erklärt. Kein Land könne alle benötigten Produkte selbst herstellen.
Der verkehrspolitische Sprecher der CSU im Europaparlament, Markus Ferber, forderte noch weitreichendere Maßnahmen - etwa die Verankerung einer EU-weiten Ausnahme für den Transport essentieller Waren bei Grenzschließungen. "Bislang werden viele Ladungen unnötig blockiert", erklärte Ferber. "In einigen Staaten müssen Lkw-Fahrer nach Überschreitung der Grenzen für 14 Tage in Quarantäne. Wenn alle so handeln, haben wir bald keinen Warenaustausch mehr innerhalb der EU. Gerade jetzt, wo die Menschen hochsensibel auf Versorgungsengpässe reagieren, müssen wir diese Blockaden auf jeden Fall verhindern und solidarisch mit besonders betroffenen Mitgliedstaaten sein."
spiegel
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