Zunächst ganz simpel: Von der EM-Verschiebung profitieren alle. Spieler, Trainer, Fans, Funktionäre: Sie müssen sich nicht dem Risiko einer Infizierung aussetzen. Dadurch werden auch alle restlichen Bewohner Europas geschützt, die sonst von umherreisenden Fans hätten angesteckt werden können. Deshalb war und ist die Verschiebung, wie Bundestrainer Joachim Löw sagte, "völlig richtig und alternativlos". Die EM im nächsten Jahr könnte ein europäisches Fest von wiederaufgenommener Verbrüderung nach der Corona-Isolation werden. Aber es gibt persönliche Schicksale, die noch spezieller von der Umgestaltung der Euro 2020 zur Euro 2021 betroffen sind:
Die Gewinner
Niklas Süle: "So eine Verletzung ist ein Drama", sagte Uli Hoeneß zwei Tage nachdem sich Niklas Süle, seines Zeichens Abwehrchef beim FC Bayern München, am 19. Oktober das Kreuzband gerissen hatte. Der damalige Vereinspräsident prognostizierte direkt: "So wie es ausschaut, ist die Saison ja beendet, die Europameisterschaft ist ad acta gelegt, die können Sie total vergessen." Nun, recht sollte Hoeneß damit behalten, dass die EM ad acta gelegt worden ist - für diesen Sommer. Für Süle kommt die Verschiebung zu einem günstigen Zeitpunkt. Der Nationalverteidiger befindet sich im Aufbautraining und hätte um einen Einsatz beim Kontinentalturnier bangen müssen. Nun kann Süle aber sein Reha-Programm ruhig und gewissenhaft abspulen, bevor er wieder bei den Bayern einsteigt und in der nächsten Saison die nötige Spielpraxis und Spritzigkeit sammelt. Um dann im Sommer 2021 für Jogi Löw auf dem Platz zu stehen, als wäre nichts gewesen.
Leroy Sané: Ähnlich wie Süle hätte auch Leroy Sané nicht an den Länderspieltests gegen Spanien und Italien Ende März teilnehmen können. Der Jungstar von Manchester City spielt zwar schon wieder - sein Comeback nach seinem Kreuzbandriss im August gab er 208 Tage später in der U23 seines Klubs. Bis Sané sich an das Tempo und die Intensität der Premier League und internationaler Aufeinandertreffen gewöhnt hätte, wäre aber noch einige Zeit vergangen. Hätte Löw ihn für eine EM 2020 nominiert, wäre der Flügelflitzer mit wenig Spielpraxis und definitiv noch nicht in Topform nicht die Riesenhilfe für die DFB-Elf gewesen, die er in Normalform sein kann.
DFB-Elf: Bundestrainer Joachim Löw kann sich nicht nur über die Rückkehr der obig genannten Topspieler freuen für das Jahr vor der EM 2021. Auch seinem Umbruch nach der miserablen WM 2018 wird ein zusätzliches Jahr geschenkt. Mats Hummels, Thomas Müller und Co. sind weg. Das junge DFB-Team kann sich nun richtig finden und einspielen, Führungsspieler kristallisieren sich heraus und taktische Feinheiten werden verinnerlicht. Bei einer Euro 2021 wird Löws Mannschaft definitiv besser abschneiden als bei einer EM 2020.
Havertz, Haaland und andere Youngsters: Wäre eine EM 2020 zu früh gekommen für Bayer Leverkusens Jungstar Kai Havertz? In den Kader wäre er sicherlich berufen worden, aber die Chancen, in der DFB-Startelf zu stehen und dem Turnier seinen Stempel aufzudrücken, stehen durch die Verlegung nun weitaus besser. Auch Erling Braut Haaland von Borussia Dortmund dürfte mit einem weiteren Jahr Bundesliga-Erfahrung bei der EM 2021 noch größer einschlagen - vorausgesetzt er, der ebenfalls blutjunge Martin Ödegaard und der Rest des norwegischen Teams können Serbien in den Playoffs schlagen. Jadon Sancho vom BVB dürfte sich in einem weiteren Jahr weiter mit der englischen Nationalmannschaft eingespielt haben. Diese freut sich ebenfalls, dass die derzeit noch verletzten Topstürmer Harry Kane und Marcus Rashford bei der EURO 2021 dann wieder fit sind.
Die Verlierer
Frauen-Nationalteams: Die klarsten Verlierer sind das DFB-Team von Martina Voss-Tecklenburg und ihre europäischen Mitstreiterinnen. Ihre Europameisterschaft sollte nämlich genau zu dem Zeitpunkt stattfinden, an dem nun die Männer-EM ausgetragen wird. Über die Köpfe der Spielerinnen hinweg wurde entschieden, nun muss ihr Turnier einen neuen Termin finden. Das zeigt mal wieder, das Zweiklassensystem des Fußballs, wenn es um Männer und Frauen geht.
Cristiano Ronaldo: Auch ein CR7 kommt mal in die Jahre. Hoffte der Ausnahmestürmer, dieses Jahr mit seinen portugiesischen Mitspielern den EM-Titel verteidigen zu können, so wird das Unterfangen ein Jahr später ungleich schwerer. Mit 35 Jahren ist Ronaldo immer noch einer der besten der Welt und derzeit in Topform: 21 Tore in 22 Serie-A-Spielen netzte er für Juventus Turin diese Saison ein. Die Euro 2020 wäre genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Einem Ronaldo mit seinem Ausnahme-Körper könnte dies natürlich auch mit 36 Jahren noch gelingen, aber auch seine Formkurve wird irgendwann nach unten zeigen.
Frankreich und Belgien: Nach der formidablen WM 2018 und aufgrund des nie enden wollenden Talentpools war Weltmeister Frankreich der absolute Topfavorit auf den EM-Titel. Die Mannschaft ist eingespielt und gespickt von jungen Spielern der Extraklasse, die schon Turniererfahrung sammeln durften. Jetzt können Deutschland und England - siehe oben - aufholen und den Abstand zu Les Bleus verringern. Auch die Niederlande kann mit einem Jahr mehr Zeit zum Titelkandidaten reifen, denn die jungen Frenkie de Jong, Donny van de Beek und Donyell Malen bilden mit Weltklasseverteidiger Virgil van Dijk bald ein enorm schwer zu schlagendes Team. Das wird auch Nachbar Belgien ärgern, deren Spieler der „Goldenen Generation“, Eden Hazard, Kevin De Bruyne oder Romelu Lukaku, so langsam die Zeit davon läuft, doch endlich mal einen internationalen Titel zu gewinnen.
Quelle: ntv.de
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