"Beispiellos” sei die Coronaviruskrise, "verheerend", "episch”, "biblisch” gar. An Superlativen herrscht dieser Tage kein Mangel, wenn europäische Politiker die Pandemie beschreiben. Man fragt sich also: Wann, wenn nicht jetzt, will die EU gemeinsam handeln? Dann schalten sich die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten zur Videokonferenz zusammen – und machen weiter wie immer: Streiten ums Geld und schieben die Entscheidung nach langen Verhandlungen erst einmal auf.
Jetzt sollen die Euro-Finanzminister binnen zwei Wochen "Vorschläge unterbreiten", die der "beispiellosen Natur des Covid-19-Schocks Rechnung tragen", heißt es in der Gipfel-Erklärung. Nebulöser geht’s kaum.
Zwei Wochen, das ist in der Coronakrise eine kleine Ewigkeit. Sicher, mit viel Glück sieht die Lage dann weniger düster aus, und die EU könnte sich vielleicht wieder irgendwie durchwurschteln. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Krise weiter eskaliert. Dann hätte die EU zwei wertvolle Wochen verloren, denen sie womöglich noch lange nachtrauern wird.
Im Süden wird gestorben, im Norden wird gespart
Vielleicht noch schlimmer aber ist der Eindruck, der in den europäischen Epizentren der Seuche entstanden ist: In Italien und Spanien sterben jeden Tag Hunderte, in Deutschland und den Niederlanden sorgt man sich um den Kontostand.
Sicher, das ist vielleicht nicht ganz gerecht. Schließlich hat die EU einiges getan, was vor Kurzem noch undenkbar schien: Ihre Schulden- und Defizitregeln hat sie ausgesetzt, Staatsbeihilfen weitgehend freigegeben, im Haushalt Milliarden für den Kampf gegen die Seuche umgewidmet.
Doch schon das war überschattet vom verheerenden Eindruck aus den Anfangstagen der Krise, als ausgerechnet die Schwergewichte Deutschland und Frankreich medizinische Güter horteten. Italien ließ sich daraufhin von China und Russland beliefern – die sich den PR-Sieg über die EU natürlich nicht entgehen ließen. Das hallt bis heute nach, in Italien und anderswo.
Eine zweite Chance für einen ersten Eindruck bekommt man ohnehin selten. Und sollte der Gipfel am Donnerstag diese zweite Chance gewesen sein, hat die EU sie spektakulär vergeben. Mehr noch: Der knallharte Streit ums Geld dürfte den Eindruck des nationalen Egoismus sogar noch vertieft haben – das zeigen schon die teils empörten Reaktionen in Spanien, Italien oder Portugal auf die strikte Weigerung der Nordeuropäer, gemeinsam für Staatsschulden einzustehen.
Die EU bekommt einen Elfmeter - und droht ihn zu verstolpern
Das Tragische daran: Noch nie war es für die EU so leicht wie jetzt, ihre Gegner vorzuführen. US-Präsident Donald Trump und der britische Premier Boris Johnson etwa beweisen gerade eindrucksvoll, dass sie einen Krisenmanager nicht einmal überzeugend spielen können. Russlands Präsident Wladimir Putin ist mit der Strategie gescheitert, die schon Trump und Johnson erfolglos versucht haben: Den Eindruck zu vermitteln, dass das Coronavirus nur im Ausland ein Problem sei. Auch die chinesische Regierung dürfte mit ihrem anfänglichen Versuch, Nachrichten über die Verbreitung des Virus zu unterdrücken, einen erheblichen Teil zur Entstehung der Pandemie beigetragen haben. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán versucht die Seuche derweil zu nutzen, sein Land weiter in Richtung Diktatur zu führen.
Die Populisten und Autokraten haben der EU damit gewissermaßen den Ball auf den Elfmeterpunkt gelegt. Die Europäer müssten ihn nur noch verwandeln, indem sie beweisen, dass sie auch eine große Krise mit demokratischen Mitteln lösen können. Natürlich gehören dazu auch Streit und nächtelange Diskussionen. Irgendwann aber müssen sich auch die EU-Staaten entscheiden, ob sie entschlossen gemeinsam handeln wollen, oder ob jeder auf eigene Faust sein Glück versuchen will.
Viel Zeit bleibt den Europäern dafür nicht. Vielleicht nicht einmal mehr zwei Wochen.
spiegel
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