Was uns die Zahl der Toten verrät

  03 April 2020    Gelesen: 922
Was uns die Zahl der Toten verrät

Bald werden eine Million Menschen weltweit mit dem Coronavirus infiziert sein. Doch die Infiziertenzahlen können ein falsches Bild der Pandemie vermitteln. Umso wichtiger wird der Blick auf die Zahl der Toten.

Ob Politiker, Wirtschaftsführer oder Eltern im Homeoffice - ganz Deutschland verfolgt gebannt die täglich aktualisierten Statistiken zur Verbreitung des Coronavirus. Die neuesten Zahlen der Johns-Hopkins-Universität sind weltweit zum Taktgeber vieler politischer Entscheidungen geworden. Doch die Zahlen haben Tücken. So dauert es etwa zehn Tage, bis ein Neuinfizierter in der Statistik überhaupt auftaucht.

Das liegt an der Inkubationszeit von fünf Tagen, der Wartezeit auf den Test und das Laborergebnis und dem dann folgenden Meldeverzug. Im schlimmsten Fall stirbt der Infizierte etwa zehn Tage später. Zwischen der Meldung einer Infektion und dem Tod vergehen also rund zehn Tage.

Am 31. März waren in Deutschland bereits 775 Tote zu beklagen. Zehn Tage zuvor, am 21. März, gab es hierzulande 22.213 Infizierte. Die scheinbare Todesrate (Mortalität) läge demnach aktuell bei drei Prozent. Bei dieser Rechnung wird überschlägig mit einem Mittelwert gearbeitet. Sie beinhaltet Unsicherheiten, da Infizierte auch nach weniger als zehn und nach mehr als zehn Tagen versterben können. Zudem fehlt in dieser Rechnung die Dunkelziffer der unerkannt Infizierten. Was auch die starke Abweichung von den Mortalitätswerten 0,5 bis 1 Prozent erklärt, die Epidemiologen für Covid-19 nennen.

Man kann mit der scheinbaren Mortalität auch grob abschätzen, wie viele Tote es in zehn Tagen in Deutschland geben wird. Unter der Annahme, dass sich der Wert von drei Prozent nicht ändert, kommt man bei 71.808 Infizierten (Stand 31. März) auf etwa 2200 Tote am 10. April.

Die Zahlen der scheinbaren Mortalität sind jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich - siehe Tabelle oben. Für Italien ergibt sich der deutlich höhere Wert von 23 Prozent, bei Spanien sind es sogar 33 Prozent.

So überschlägig diese Kalkulation auch ist, mit einer solchen Faustformel haben auch schon Pandemieforscher wie Richard Neher von der Universität Basel gearbeitet, um die Corona-Epidemie in China besser zu verstehen. Neher hält die hier angestellte Kalkulation auf Anfrage des SPIEGEL denn auch für grundsätzlich plausibel.

Die Rückrechnung offenbart, wie lückenhaft und wenig vergleichbar die aktuellen Infiziertenstatistiken sind. Die riesigen Unterschiede der scheinbaren Mortalität zwischen Deutschland, Italien und Spanien sind kaum allein mit der Extremsituation in den Krankenhäusern von Bergamo oder Madrid erklärbar, sondern vor allem mit unterschiedlich intensiver und unterschiedlich früher Testung.

Überlastete Labors
Es gibt noch ein weiteres Phänomen, das die Aussagekraft der Infiziertenzahlen - vor allem in Zukunft - weiter schwächen dürfte: die begrenzte Kapazität der Labors.

Dazu folgendes fiktives Gedankenexperiment: In einer Stadt verdoppelt sich die Zahl der Neuinfizierten jeden Tag. Das Labor der Stadt kann tausend Tests pro Tag durchführen. Getestet werden sollen immer alle Verdachtsfälle, 20 Prozent der Tests sind positiv.

Zu Beginn reicht die Laborkapazität noch locker aus. An einem Tag gibt es 500 neue Verdachtsfälle, davon 100 positiv. Am nächsten Tag sind es 1000 neue Verdachtsfälle, exakt die Kapazität des Labors, davon 200 positiv.

Doch einen Tag später gibt es ein Problem: Es werden 2000 neue Verdachtsfälle gezählt. Würde man sie alle testen, gäbe es 400 positive Ergebnisse. Doch das Labor kann nur 1000 Tests pro Tag durchführen - und kommt so auf nur 200 nachgewiesene Neuinfektionen. Einen Tag später (4000 Verdachtsfälle) werden erneut nur 200 Neuinfektionen gemeldet, obwohl es dann schon 800 sind.

Der Bürgermeister der Stadt könnte nun vermelden, dass sich der Anstieg der Infiziertenzahlen verlangsamt hat. Doch dies hat nichts mit der Dynamik der Epidemie zu tun, sondern einfach mit der beschränkten Testkapazität. Selbst wenn die Kapazität des Labors kurzfristig auf 1500 erhöht worden wäre, hätte es nur 300 der 400 beziehungsweise 800 Neuinfektionen nachweisen können.

Dieses Beispiel ist konstruiert, aber über kurz oder lang werden wohl auch die Labors in Deutschland an ihre Grenzen kommen. Und wegen all der hier beschriebenen Probleme mit Infiziertendaten werden wir in den kommenden Wochen viel genauer auf eine andere Zahl schauen müssen: die Zahl der Toten.

Sie wächst in fast allen Ländern rasant - auch in Deutschland. Und sie ist vergleichsweise präzise bestimmbar. Gestorbene kann man zählen, bei den Infizierten klappt das nicht.

Die Zahl der Toten erlaubt interessante Rückschlüsse, weil Mediziner - wie oben bereits beschrieben - wissen, wie lange es im Durchschnitt dauert, bis ein Covid-19-Kranker stirbt.

Wir können uns zum Beispiel die Dynamik der Totenzahlen anschauen. Wie schnell wachsen diese Zahlen? Wir berechnen dazu den täglichen Anstieg der Zahlen in Prozent - und zwar aus dem Anstieg über die letzten fünf Tage. In Deutschland liegt dieser Wert aktuell bei etwa 26 Prozent, während der aktuelle Infiziertenwert schon Richtung 10 Prozent geht.

Diese täglichen Anstiegswerte der Toten sollten theoretisch genauso groß sein wie die Anstiegswerte bei den Infizierten, allerdings nicht am selben Tag, sondern zehn Tage vorher. Aber ist das - abgesehen von den statistischen Unsicherheiten - auch bei den realen Zahlen so?

Folgendes Diagramm zeigt die Anstiege für vier Länder ab dem 16. März. Die schwarze Linie steht dabei für den Anstieg der Infizierten - aber um zehn Tage nach rechts verschoben. Bei Deutschland liegen diese Linie und die roten Balken (Anstieg der Toten) in den ersten Tagen teils noch weit auseinander. Das könnte an den anfangs noch kleinen absoluten Fallzahlen liegen. Sie sind dann anfälliger für statistische Schwankungen. Doch etwa ab dem 22. März bewegen sich die Werte für die Toten und die Projektion der Infiziertenzahlen (schwarze Linie) durchaus in derselben Größenordnung.

Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass die offiziellen Infiziertenzahlen die Dynamik der Epidemie trotz all ihrer Schwächen ganz gut abbilden - zumindest derzeit. Und das gilt - mit einigen Einschränkungen offenbar auch für Spanien, Italien und die USA.

In diesen drei Ländern wurde anfangs viel zu wenig getestet. Dass die Infiziertenzahlen dort derzeit etwas schneller wachsen als die Zahl der Toten, könnte mit Veränderungen bei den Tests zu tun haben. In Italien beispielsweise wurden wegen der Extremsituation in den Krankenhäusern womöglich überdurchschnittlich viele Schwerkranke getestet. Die Zunahme der Infiziertenzahl verläuft dadurch auf dem Papier womöglich schneller als in der Realität.

Immerhin scheint die Ausgangssperre in Italien Wirkung zu zeigen, denn die tägliche prozentuale Zunahme bei den Todeszahlen ist in den vergangenen Wochen von mehr als 30 auf unter 10 Prozent gesunken. Eine Entwarnung ist das freilich nicht. Denn die Zahl der Toten steigt ja trotzdem weiter von Tag zu Tag - nur nicht mehr ganz so schnell.

Wirken die Ausgangsbeschränkungen?
Wenn die Infiziertenstatistik für Deutschland in etwa die Entwicklung der realen Infiziertenzahlen abbildet, scheinen auch hier die Maßnahmen der vergangenen Tage zu wirken. Der Anstieg bei den Infektionen ist in den letzten zwei Wochen von 30 auf 10 Prozent gefallen - und dies könnte mit der bekannten Verzögerung von etwa zehn Tagen auch mit dem täglichen Anstieg der Toten passieren.

Doch ob sich der Anstieg der Infiziertenzahl in Deutschland in den vergangenen Tagen tatsächlich verlangsamt hat, kann derzeit mit Gewissheit niemand sagen. Wenn es den Effekt tatsächlich gibt, dann wäre dies wohl die Bestätigung dafür, dass die ergriffenen Maßnahmen zum Social Distancing funktioniert haben. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es weitere Gründe gibt. Etwa Probleme bei der Datenerfassung und Weitergabe, die es zumindest in den vergangenen Tagen gegeben hat. Oder unter Umständen auch die oben beschriebene Annäherung an die Laborkapazitäten.

Intelligenter testen
Die Probleme mit der gängigen Infiziertenstatistik ließen sich umgehen, indem man zum Beispiel große Stichproben testet. Oder wenn Gesundheitsämter bei der Auswahl der zu testenden Personen strenger vorgehen - also Menschen mit geringer Chance, sich infiziert zu haben, von Tests ausschließt. Und sich stattdessen auf die Personen mit dem höchsten Risiko konzentriert, also etwa mit besonders engem Kontakt zu Infizierten.

Ein solches Vorgehen schlägt auch der Laborverbund ALM vor, dessen Mitglieder etwa 80 bis 90 Prozent aller Tests in Deutschland durchführen. In vielen Regionen Deutschlands lag der Anteil positiver Tests zuletzt weit unter zehn Prozent. Für den Verein ALM ein Hinweis darauf, dass zu breit getestet wird und mehr Fokus auf besondere Gruppen wie Risikopatienten oder Menschen mit klaren Symptomen gelegt werden sollte.

Wenn Ärzte bei der Auswahl der zu testenden Personen plötzlich strengere Kriterien anlegen, könnte es allerdings auch passieren, dass die Infiziertenzahlen auf einmal wieder schneller steigen, obwohl das Wachstum in Wahrheit bereits gesunken ist.

Wie gut die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in Deutschland wirken, werden wir also womöglich erst in 10 oder 14 Tagen wissen, wenn die Toten bis zu diesem Tag gezählt sind.

spiegel


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