Wladimir Putin hat den Russen gerade Mut zugesprochen. Sicher, es sei "nervtötend und abstoßend", sich ständig zu Hause aufzuhalten, sagte Russlands Präsident am Mittwoch in einer kurzen Fernsehansprache zur Corona-Pandemie. Aber man habe keine Wahl, und Russland habe ja schon ganz andere Prüfungen überstanden - "die Petschenegen haben es gequält und die Polowzer", und mit denen sei die Heimat ja auch fertig geworden.
Nun ist es schon ein Jahrtausend her, dass die Volksstämme der Petschenegen und Polowzer ein Problem für die alte Rus waren, es war insofern ein scherzhafter Vergleich. Und noch seltsamer war es, dass Putins Mini-Ansprache eingebettet war in eine live übertragene Videokonferenz mit Regierung und Gouverneuren, sodass der Zuschauer nicht recht wusste, ob nun wirklich er angesprochen war oder die Beamten, die mit steifem Rücken in ihren Kabinetten saßen. Was sollte der seltsame Auftritt?
"Das war eine Korrektur. Es ging darum, das zu zeigen, was die Menschen schon länger von Putin erwartet hatten: Führungsqualitäten", sagt die Politologin Tatjana Stanowaja.
Seit die Corona-Epidemie Russland erreicht hat, wirkt der Präsident nämlich seltsam abwesend. Er hat nicht, wie westliche Staats- und Regierungschefs, das Volk auf Opfer vorbereitet und die eigene Strategie erklärt. Pathos hielt er für unnötig. Selbst wenn er das Wort ergriff, wirkte er wie jemand, der mit der ganzen Krise am liebsten gar nichts zu tun haben wollte. Er schob die Verantwortung lieber anderen zu - den Regionalgouverneuren, der Regierung, den Unternehmen.
Eine Welle negativer Reaktionen war die Folge - etwa auf Putins Ansprache vor einer Woche, als er den gesamten April für arbeitsfrei erklärte, bei fortlaufenden Lohnbezügen. Was Putin nämlich nicht sagte, war: Woher die Unternehmen denn das Geld nehmen sollten, um die Gehälter auszuzahlen. Die Russen waren verblüfft. Putin wirkte auf sie wie jemand, der ein Geschenk auf fremde Kosten macht. Ein neuer Putin-Witz machte die Runde: "Geht Putin in eine Bar und ruft: 'Eine Freirunde für alle! Geht aufs Haus!'".
Die Krise erwischte Putin von Anfang an auf dem falschen Fuß. Sie durchkreuzte die großen politischen Pläne, die er für dieses Frühjahr hatte: Erstens wollte er sich in einer Volksabstimmung zwei weitere Amtszeiten im Kreml genehmigen lassen. Und zweitens wollte er den 75. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland mit vielen ausländischen Gästen feiern.
Ferien oder Quarantäne?
Das erklärt, warum es Putin so schwerfiel, eine klare Linie in der Coronakrise zu finden. Noch am 17. März, als die Moskauer Stadtregierung schon über einen Lockdown in der Hauptstadt nachdachte, setzte der Präsident ungerührt die Volksabstimmung für den 22. April an. Nur eine Woche später blies er sie wieder ab, in seiner ersten Fernsehansprache überhaupt zur Corona-Epidemie.
Und selbst dabei stiftete er neue Verwirrung: Statt Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu verhängen, überließ er die unangenehmen Schritte seinen Untergebenen – er selbst dagegen verkündete für den Anfang eine arbeitsfreie Woche bei vollem Gehalt. Bei den Arbeitnehmern kam die Botschaft nicht als Quarantäne an, sondern als Ferien – viele Moskauer trafen sich sofort zum Grillen im Grünen. Und Putins Sprecher musste erst einmal den Schaden begrenzen und klarstellen, dass die Ferien natürlich nicht für jene gälten, die von zu Hause aus arbeiten könnten.
Nun hat die Coronakrise nicht nur Putin überfordert, sondern Politiker weltweit. Aber das Besondere an Russland ist: Hier hat sie auch die politische Bühne verändert. Mit Putin ist sozusagen die wichtigste Figur plötzlich hinter den Kulissen verschwunden – und interessant ist, wer nun die Lücke füllt. Es ist nicht Premier Michail Mischustin und seine Regierung, wie man eigentlich erwarten würde. Sondern es ist der Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin, ein steifer Bürokrat ohne jedes politische Charisma, aber mit Einfluss und einer im russischen Vergleich einzigartig gut ausgestatteten Verwaltung.
Bühne frei für den Bürgermeister von Moskau
Moskau hat derzeit 5841 gemeldete Corona-Infektionen – das ist nicht viel für eine Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern, aber doch 70 Prozent aller bekannten Fälle in Russland. Und die reale Zahl der Erkrankten sei bedeutend höher als die gemeldeten Fälle, warnte Sobjanin schon vor zwei Wochen.
Am 29. März verkündete er dann harsche Maßnahmen, inklusive einer Ausgangssperre für alle Moskauer. Laut Verfassung sei er dazu gar nicht befugt, kritisierte ein prominenter Senator aus dem Oberhaus - solche Einschränkungen der Bürgerrechte seien Parlament und Präsident vorbehalten. Tatsächlich war Sobjanins Vorpreschen für Russlands politisches System ungewöhnlich. Aber der Kreml hieß die Maßnahme ausdrücklich gut. Und auch viele Moskauer waren froh über das Handeln des Bürgermeisters, der zugleich die Krankenhäuser aufrüsten und am Stadtrand ein ganz neues Krankenhaus bauen lässt.
Dass das Delegieren von Verantwortung Methode hat, das konnte man in Putins zweiter Fernsehansprache zum Thema erkennen. Der Präsident kündigte an, jede Region solle selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreife. Das ist zwar sinnvoll angesichts von Russlands Ausdehnung und Vielfalt, aber es passt überhaupt nicht zu Putins bisheriger Strategie. Über Jahre hat er selbstständige Regionalpolitiker entmachtet und durch kremlhörige junge Technokraten ersetzt. Entstanden ist ein System, in dem Verantwortung kaum mehr delegiert werden kann. "Weil sie gewohnt sind, fremde Entscheidungen auszuführen, haben sie längst verlernt, eigene zu treffen", kommentiert Stanowaja. Russland ist nur mehr dem Namen nach eine Föderation, politisch aber hoch zentralisiert.
spiegel
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