Der späte Exportschlager aus der DDR

  24 April 2020    Gelesen: 1680
Der späte Exportschlager aus der DDR

Um diesen Stoff reißen sich alle in der Coronakrise: Vlies für Atemschutzmasken. Die hauchzarte Kunstfaser war eine Erfindung von DDR-Tüftlern. 1974 verscherbelten sie die Lizenz - und machten eine West-Firma reich.

1974 war ein prima Jahr für die DDR: Ab Februar durften endlich auch die eigenen Bürger in den Intershops einkaufen. Im Juni bescherte Jürgen Sparwasser dem Land mit seinem 1:0-Tor im deutsch-deutschen WM-Duell einen historischen Fußball-Triumph (der Klassenfeind aus der Bundesrepublik wurde trotzdem Weltmeister). Und im September nahm die DDR diplomatische Beziehungen mit den USA auf.

Weit weniger bekannt ist ein folgenreicher Deal, der im Anno Sparwasser zwischen Ost- und Westdeutschland abgeschlossen wurde. Und den Grundstein legte für den Erfolg eines rheinländischen Unternehmens: die Firma Reifenhäuser aus Troisdorf bei Bonn, Weltmarktführer im Bau von Anlagen für Vliesstoffe - es ist das derzeit in der Coronakrise so begehrte Material zur Herstellung von Atemschutzmasken.

Vliesstoff besteht aus hauchzarten Kunststofffäden. Die ideale Maske zum Schutz vor Coronaviren setzt sich aus mehreren übereinandergelegten Vliesschichten zusammen: dem sogenannten Spinnvlies und dem aus noch viel dünneren Fasern gefertigten Meltblown-Vlies. Während das Meltblown-Verfahren 1942 in den USA entwickelt wurde, erwarb die Firma Reifenhäuser das Know-how für die Fertigung von Spinnvlies nach einem speziellen Verfahren 1974 auf der Messe in Leipzig.

Plastik statt Jute
"Ihr müsst auch einmal etwas bei uns kaufen": Mit dieser Aufforderung soll Manfred Schädel, Generaldirektor des Kombinats Technische Textilien, beim Gang über die Messe an die Firmenchefs Hans und Fritz Reifenhäuser herangetreten sein. "Ihr habt ja nichts", lautete die freche Antwort der westdeutschen Maschinenbauer. So schildert Verfahrenstechniker Hans-Georg Geus, technischer Direktor der Reifenhäuser Reicofil, das hochrangige Treffen. Dabei hatten die Ostdeutschen sehr wohl etwas. Nämlich kreative Forscher, die jüngst ein Ersatzprodukt für Jute erfunden hatten: Spinnvlies.

Weil die DDR auf den Import teurer Jute aus dem Ausland verzichten wollte, musste ein eigener Verpackungsstoff her, entwickelt ab 1968 von Tüftlern am Wissenschaftlich-Technischen Zentrum Technische Textilien (WTZ) in Dresden. Der auf Polyamid-Basis hergestellte Spinnvliesstoff erhielt den klangvollen Namen "Kride", erzählt Chemiker Wolfgang Schilde vom Sächsischen Textilforschungsinstitut (STFI) in Chemnitz und lacht: "Kride" sei bösen Zungen zufolge die Abkürzung für "Keine richtige Idee" gewesen. Dabei versteckten sich, wie in der DDR üblich, die Namen der Erfinder darin: Walter Kittelmann und Karl Reif.

Kride - keine richtige Idee? Reifenhäuser war anderer Meinung, als man der West-Firma in Leipzig die Herstellungslizenz anbot. Dankbar griff das Unternehmen zu - und lieferte den Sachsen im Gegenzug Anlagen zur Herstellung von Folienbändchen. "Das Patent haben wir damals wahrscheinlich für 'n Appel und 'n Ei weggegeben", scherzt Schilde, langjähriger Leiter des Kompetenzzentrums Vliesstoffe am Chemnitzer STFI. Tatsächlich war es eine Win-Win-Situation: Die Sachsen waren glücklich mit dem West-Equipment, die Rheinländer glücklich mit der Lizenz. Statt Polyamid verwendete man bei Reifenhäuser Polypropylen, entwickelte das Verfahren weiter - und startete durch.

Per Vertragsklausel seien die Ostdeutschen zehn Jahre lang am Gewinn beteiligt gewesen, den Reifenhäuser durch den Verkauf von Spinnvlies-Anlagen erzielt, so Schilde. Doch die erste Konstruktion wurde - traurig für die notorisch klamme DDR - erst nach elf Jahren fertig: 1985 ging Reifenhäuser mit den ersten Reicofil-Anlagen an den Markt. Heute werden 75 Prozent aller Hygiene- und Medizinvliesstoffe weltweit auf Reicofil-Anlagen produziert.

"Leider durften die Kollegen aus der DDR ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr mit uns kommunizieren, so dass wir die Technologie allein entwickelt haben", sagt Geus. Nach der Wende führte der Verfahrenstechniker die ostdeutschen Spinnvlies-Erfinder durch die Reicofil-Anlagen: "Die Herren waren sehr stolz, dass ihre Basisentwicklung zu einem solchen Erfolg geführt hat", so Geus. Jahrzehntelang hatte der Eiserne Vorhang eine Zusammenarbeit unterbunden, nun kooperierten Ost und West auf dem Gebiet der Vliesstoffe.

Der Austausch führte dazu, dass Reifenhäuser den Kollegen im Osten 2005 sogar eine eigene Reicofil-Anlage sponserte: Die in Sachsen entwickelte Technik - sie kehrte zu ihren Erfindern zurück. Um die rund fünf Millionen Euro teure Anlage haben die Chemnitzer vom Sächsischen Textilforschungsinstitut eine eigene Halle gebaut und sind sehr stolz. Hier finde ein Austausch auf Augenhöhe statt, sagt Schilde: "Ob Ost oder West, ist vollkommen schnurz. Was die Fachleute bringen, ist entscheidend - und nicht ihre Herkunft oder politische Meinung."

spiegel


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