Es gibt nur einen ESC

  17 Mai 2020    Gelesen: 1002
  Es gibt nur einen ESC

Es ist ein Trauerspiel, das am Samstagabend in der ARD über den Bildschirm flimmert. Nicht etwa, weil sich die Programm-Macher nicht darum bemüht hätten, ein launiges ESC-Ersatzprogramm auf die Beine zu stellen. Sondern weil es einfach keinen Ersatz gibt.

Was wirklich wichtig ist, bemerkt man bekanntlich oft erst, wenn es nicht (mehr) da ist. Ja, der Eurovision Song Contest (ESC) wird oft belächelt als überkommener Hupfdohlen-TV-Dinosaurier. Doch tatsächlich ist er nicht nur eines der letzten Unterhaltungs-Lagerfeuer, für das sich Jahr für Jahr dann eben doch wieder Millionen um den Fernseher scharen. Er hat in einer Zeit zerfallender internationaler Solidarität als Symbol für den europäischen Zusammenhalt auch längst eine politische Bedeutung.

Schon allein deshalb ist es bedauerlich, dass auch der ESC 2020 zwangsläufig der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen ist. Aber auch für manche Teilnehmer ist es persönlich genauso tragisch wie für einige Fußballer oder Olympioniken, die bei der Europameisterschaft oder den Olympischen Spielen in diesem Jahr vielleicht die Leistung ihres Lebens abgerufen hätten - und für die aufgeschoben eben doch auch aufgehoben ist. Den allermeisten ESC-Kandidaten bleiben nun mal nur die 15 Minuten Ruhm, die ihnen bei dem Wettbewerb zuteil werden. Und um die wurden sie nun gebracht, wenngleich einige von ihnen tatsächlich auch im kommenden Jahr bereits für ihr jeweiliges Land gesetzt sein sollen.

Keine ESC-Ballnacht

Am Samstagabend wäre eigentlich das diesjährige ESC-Finale in Rotterdam über die Bühne gegangen. Für alle Fans mit einer Träne im Knopfloch und wenigstens einigen der ursprünglich 41 in den Niederlanden vorgesehenen Beiträge zimmerte die ARD mit "Eurovision Song Contest 2020 - Das deutsche Finale live aus der Elbphilharmonie" ein Auffangbecken in Form eines Ersatzprogramms. Die zehn Endrundenteilnehmer aus Ländern wie Malta, Bulgarien oder der Schweiz für die Wahl eines "Siegers der Herzen" durch das ausschließlich deutsche TV-Publikum waren zuvor in einem Halbfinale im Spartensender One bestimmt worden. Ziemlich lieblos und wenig beachtet.

Kein Wunder. Eine nationale Kür des diesjährigen ESC-Gewinners ist schließlich nur von überschaubarem Wert. Daraus wurde auch im Finale am Samstagabend erst gar kein Hehl gemacht. Die Trophäe, die es zu gewinnen galt, wirkte wie einem überdimensionalen Kaugummi-Automaten entsprungen. Mit den Kandidaten aus Dänemark, Litauen und Island performten lediglich - aber immerhin - drei Formationen ihre Songs live, während die anderen Beiträge als Musikvideo zur Abstimmung standen. Und die Corona-bedingten Beschränkungen der Show ohne Publikum und Applaus, dafür aber natürlich stets mit dem vorgeschriebenen Mindestabstand taten ihr Übriges, damit aus der Sendung keine rauschende ESC-Ballnacht wurde. Wie auch? 

Dabei hatte man, was die Location anbelangt, mit der "Elphi" durchaus dick aufgetragen. Allein, nötig gewesen wäre das nicht. Es hätte in dem Fall auch eine x-beliebige Hinterhof-Klitsche getan. Oder Barbara Schönebergers Wohnzimmer, wenngleich sie sich als Moderatorin natürlich wie gewohnt nach besten Kräften darum bemühte, der Show auch in diesen tristen Zeiten zumindest ein wenig Glanz zu verleihen. Und das nicht nur mit ihrem opulent-skurrilen Kussmund-Kleid.

The winner takes it all

Gleich zu Beginn schmetterte Schöneberger ein Medley umgedichteter Gassenhauer à la "The winner takes it all - The Raab is standing small". Ach ja, richtig. Auch Ex-ESC-Buddy und TV-Rentner Stefan Raab setzte mit seinem einstigen Haus-und-Hof-Sender Pro7 dazu an, der ARD-Show auch noch den letzten Reiz zu nehmen. Zeitgleich sendete er mit dem sogenannten "Free ESC" eine eilig aus dem Boden gestampfte Konkurrenzveranstaltung, die beim kurzen Zappen allerdings einen ebenfalls wenig glamourösen Eindruck vermittelte. Doch allein Raabs Kurz-Auftritt als Reinkarnation von Nicole dürfte vielen das Einschalten wert gewesen sein.

Währenddessen zeigte in der ARD Deutschlands verhinderter ESC-Hoffnungsträger Ben Dolic, wie sein Auftritt in Rotterdam ungefähr ausgesehen hätte. Michael Schulte schmetterte als Pausenfüller noch einmal sein "You Let Me Walk Alone", mit dem er 2018 den vierten Platz bei dem Contest geholt hatte. Und gefühlt 87 Schnelldurchläufe sollten den Zuschauern dabei hilfreich sein, sich per Telefon für einen "Sieger der Herzen" zu entscheiden.

Am Ende war es, wie es eigentlich in den vergangenen Jahren immer bei den ESC-Entscheidungen war. Das TV-Publikum verhalf einem Beitrag zum Sieg, den eine Experten-Jury, die zur Hälfte ebenfalls über das Abschneiden der Kandidaten mitentscheiden durfte, nicht ganz vorne gesehen hatte: "On Fire" von The Roop aus Litauen. Und das völlig zurecht. Das Männer-Trio mit groovigem Ohrwurm und homoerotischer Ausstrahlung hätte wohl auch in Rotterdam beste Siegchancen gehabt. Und das bei einem ESC, der als "besonders starker Jahrgang" in die Geschichte eingegangen wäre, wie das neue Kommentatoren-Dreamteam Peter Urban und Michael Schulte richtig feststellte.

ESC 2021 in Rotterdam

Nicht nur die ebenfalls im "deutschen Finale" vertretenen Daði og Gagnamagnið mit "Think About Things" aus Island, Little Big mit "Uno" aus Russland oder Destiny mit "All Of My Love" aus Malta hätten im ESC-Finale 2020 weit vorne landen können. Andere Anwärter wie etwa Eden Alene mit "Feker Libi" aus Israel oder Roxen mit "Alcohol You" aus Rumänien konnte man später in der Sendung "Europe Shine A Light" erleben. Mit dieser Sendung aus dem niederländischen Hilversum sollte im Anschluss auch auf internationaler Ebene dem entfallenen ESC Rechnung getragen werden.

Und das nicht allein mit der notorischen Eurovisions-Hymne, die man zu Beginn der ARD-Show noch schmerzlich vermissen musste. In dem Format wurden nicht nur alle 41 ursprünglichen ESC-Kandidaten in diesem Jahr mit ihren Songs und Grußbotschaften aus der Corona-Isolation vorgestellt. Michael Schulte durfte darin gemeinsam mit Sängerin Ilse DeLange von The Common Linnets (ESC-Zweite von 2014) auch "Ein bisschen Frieden" trällern, Netta (ESC-Siegerin von 2018) einen neuen Song vorstellen und Mans Zelmerlöw (ESC-Sieger von 2015) sein "Heroes" zu Bildern von Pflegehelfern akustisch in seinem Garten zum Besten geben.

Schließlich erfuhr man, dass es nach all dem Unbill in diesem Jahr auch 2021 dabei bleibt: Der ESC findet in Rotterdam statt. Das ist doch mal eine gute Nachricht. Und ein Ereignis, auf das man sich freuen darf. Denn: Es gibt nur einen ESC.

Quelle: ntv.de


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