Über mehrere symbolische Grabhügel hinweg beschimpfen sich die beiden Männer. Der eine läuft ohne Mundschutz durch die Installation an der Copacabana und stößt die schwarzen, in den Sand gesteckten Kreuze um. Der andere richtet sie kurz darauf wieder auf. "Mein Sohn ist als 25-Jähriger an diesem Dreck gestorben", ruft er dabei durch seinen Mundschutz. "Und dieser Typ", er zeigt auf den Anhänger von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, der inzwischen inmitten des Gräberfelds mit einer Flagge Brasiliens herumwedelt, "verhält sich wie ein Clown". Der Vater brüllt: "Respektiere den Schmerz anderer!"
Hundert der Kreuze stellten Aktivisten am vergangenen Donnerstag wegen der über 40.000 Corona-Toten im Land am Strand von Rio de Janeiro auf. Der Streit der beiden Männer, in einem Video festgehalten, weitet sich danach zur Gruppendiskussion auf der Promenade aus. Währenddessen laufen Männer in weißen Schutzanzügen inmitten der Grabreihen mit Schaufeln in der Hand durch die Installation, von der nach wenigen Stunden schon nichts mehr zu sehen ist.
Solche Auseinandersetzungen werden auch von den Handlungen Bolsonaros befeuert. Als Anfang des Monats die Todeszahlen nach oben schnellten, tat dies der Präsident einfach ab. Der Tod, so dessen salbende Worte, sei eben "das Schicksal aller". Der Konflikt in der Bevölkerung ist auch einer der staatlichen Institutionen. Schon durch die gesamte Corona-Krise setzt sich Bolsonaros Regierung öffentlich mit ihnen auseinander; mit dem Obersten Gerichtshof schon die gesamte Präsidentschaft. Während sich nun die offizielle Zahl der Corona-Toten im Land der 50.000er Marke annähert, erleben die Brasilianer einen weiteren Höhepunkt des Machtgezerres.
Videos, versteckte Zahlen, Feuerwerk
Es begann vergangenen Mittwoch mit der verzögerten Veröffentlichung der Infizierten- und Totenzahlen. Tags darauf forderte Bolsonaro in einem Video seine Anhänger dazu auf, in Krankenhäuser einzudringen und die Bettenbelegung zu filmen; ein Aufruf, Beweise zu sammeln, die angeblich übertriebene Zahlen belegen sollen. Am Freitag wurden auf Anweisung Bolsonaros die Infizierten- und Totenzahlen aus dem Netz genommen. Der Oberste Gerichtshof, das Supremo Tribunal Federal (STF), ordnete an, die Veröffentlichung sei wieder aufzunehmen. Bolsonaro, sein Vizepräsident und der Verteidigungsminister drohten daraufhin "anderen Staatsgewalten" mit einer Militärintervention.
Am Samstag forderte die Staatsanwaltschaft dann eine Stellungnahme des Interims-Gesundheitsministers zu den Vorgängen. Zugleich wurde in der Hauptstadt Brasilia das Camp der Bolsonaro-Anhänger in der Nähe des STF geräumt. In der Nacht revanchierten sie sich mit Feuerwerksbeschuss des Gerichtsgebäudes. Mehrere der elf Richter reagierten am Sonntag mit scharfen Stellungnahmen auf die Vorkommnisse. Mit zahlreichen Entscheidungen gegen den Präsidenten haben die Juristen ihn schon länger gegen sich aufgebracht - nicht zuletzt durch Ermittlungen wegen eines Netzwerks, über das Bolsonaros Sohn Falschnachrichten im Sinne seines Vaters verbreiten soll.
Der Vorsitzende Richter Antonio Dias Toffoli etwa verurteilte den Angriff auf das Gebäude scharf. Eine Minderheit der Bevölkerung sowie "Staatsakteure" hätten zur symbolischen Attacke auf alle demokratischen Institutionen ermutigt. Toffoli nannte den Präsidenten zwar nicht beim Namen, aber Bolsonaro war gemeint. Ein weiterer Richter twitterte, es gebe einen Unterschied zwischen Kampfgeist und Banditentum: "Es gibt einige voraufklärerische Ghettos in Brasilien." Diese Gruppen sollten in die Schranken gewiesen werden.
Richter Gilmar Mendes reagierte besonders scharf auf Bolsonaros Aufruf: "Es ist absurd, dass Staatsvertreter Verschwörungstheorien befeuern und damit die öffentliche Gesundheit gefährden." Mendes forderte die Staatsanwaltschaft öffentlich auf, zu handeln, was diese prompt tat. Generalstaatsanwalt Augusto Aras kündigte Untersuchungen wegen gewaltsamen Eindringens in Krankenhäuser in São Paulo und in Brasilia an. Die Aktionen gefährdeten die Gesundheit des "wertvollen" medizinischen Personals, das gegen das Coronavirus kämpft.
Mendes hatte schon Anfang Juni über die Versuche von Bolsonaro und dessen versuchte Zahlenmanipulation getwittert. "Statistikmanipulation ist ein Manöver totalitärer Regime", polterte er. "Dieser Trick spricht die Regierung nicht von der Verantwortung eines möglichen Völkermords frei." Die elf Richter des STF agieren zwar unabhängig. Aber Mendes ist einer von sieben, die von den linken Präsidenten Lula da Silva und Dilma Rousseff nominiert worden waren.
Tödliche Lockerungen
Im Konflikt um die Vorgehensweise in der Corona-Krise hat Bolsonaro bereits zwei Gesundheitsminister verschlissen: Den ersten feuerte er, weil der für strenge Quarantäne-Regelen eintrat, der zweite schmiss nach weniger als einem Monat hin, weil Bolsonaro sich wissenschaftlichem Rat verweigerte. Der Interimsminister ist nun ein Armeegeneral ohne entsprechende Erfahrung, der sich zur Verstärkung auf weitere Unwissenheit stützt. So war sein designierter Staatssekretär für Wissenschaft, Technik und Ausrüstung der Milliardär Carlos Wizard, Mormone und Geschäftsmann. Als dieser Anfang des Monats die Infizierten- und Totenzahlen als "wirklichkeitsfremd oder manipuliert" verharmloste, riefen Bolsonaro-Gegner zu einem Boykott gegen Wizards Unternehmen auf. Der Geschäftsmann zog sich zurück.
Die ständige Konfliktsuche Bolsonaros erleichtert anderen Verantwortlichen, ohne Kontrolle größtenteils zu machen, was sie wollen. Bei Gesundheits- und Sicherheitspolitik etwa handeln die 27 Bundesstaaten autonom. Bolsonaros Macht ist aber nicht nur dadurch eingeschränkt. Der STF etwa kann Entscheidungen des Präsidenten rückgängig machen. Der Kongress besteht aus einem Sammelsurium kleiner Parteien. Bolsonaro hat dort zwar eine Mehrheit, aber keine stabile. Doch seine Alliierten reichen von den Lkw-Fahrern, die für die Lebensmittelversorgung mitverantwortlich sind, über einflussreiche evangelikale Prediger gegen die Quarantäne-Maßnahmen bis zu den illegal agierenden Holzfällern im Amazonas, die sich vom Präsidenten gestützt sehen.
Anti-Corona-Maßnahmen werden nun trotz der zum Teil über 1000 Toten pro Tag wieder gelockert. Im besonders betroffenen Rio de Janeiro etwa dürfen Bars, Restaurants und Einkaufszentren teilweise wieder öffnen. Auch einige sportliche Aktivitäten sind erlaubt. Schon am ersten Tag strömten viele Menschen an die Strände. Auch in São Paulo sind die Maßnahmen inzwischen weniger strikt. Das könnte Folgen haben. Etwa 10.000 Menschen, also mehr als 70 Prozent, werden in Stadt und Bundesstaat bis Anfang Juli deshalb zusätzlich ihr Leben verlieren, schätzt eine Forschungsgruppe der ansässigen Universität und der Stiftung Getúlio Vargas.
Überproportional betroffen sein werden davon aller Voraussicht nach Brasilianer, die sich selbst nicht als weiß bezeichnen. Ende Mai waren 55 Prozent, bei denen Covid-19 auftrat, auch daran gestorben, ergab die Analyse der offiziellen Zahlen durch ein staatliches Forschungsinstitut. Bei Weißen waren es 38 Prozent. Die Hauptgründe für den Unterschied sind Armut, schlechte Gesundheitsversorgung und überbelegte Wohnräume, sagen Ärzte und Wissenschaftler. Im vergangenen Jahr bezeichneten sich 43 Prozent der Brasilianer als weiß, 9 Prozent als schwarz und 47 Prozent als "grau", also gemischt. Und Weiße, die erzielten im Schnitt fast das doppelte Jahreseinkommen wie die anderen beiden Bevölkerungsgruppen.
Quelle: ntv.de
Tags: