Entgegnen kann Los Angeles' Polizeichef Michel Moore bei dieser offenen Sprechstunde am 2. Juni nichts. Gerade noch hatte er behauptet, für den Tod des Afroamerikaners George Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten seien ursprünglich Plünderer verantwortlich. "Hallo, können Sie mich hören?", fragt ein Anrufer vermeintlich ruhig, dann schreit er Moore und den anderen Anwesenden ins Ohr, was er von dieser Version hält. "Ich finde es ekelhaft, dass LAPD friedliche Demonstranten auf den Straßen abschlachtet. Zwei meiner Freunde waren in Beverly Hills, alles war friedlich bis die Polizei auftauchte, übertriebene Gewalt anwendete, Gummigeschosse und Tränengas abfeuerte."
Die Stimme des Anrufers springt ein paar Töne nach oben. "Ist es das was ihr unter beschützen und dienen versteht? Ich denke, es ist Dreck. Ich weigere mich, dich einen Polizeioffizier zu nennen oder einen Polizeichef, weil du diese Ränge nicht verdienst. Du bist eine Schande. (...) Ich trete meine Restzeit ab, f*** dich!", beschimpft ihn Jeremy Frisch zum Abschluss und kurz vor dem Ende seiner verfügbaren 30 Sekunden. Über die letzten zweieinhalb Wochen ist dieser letzte Satz zu einem geflügelten geworden für solche, die ein anderes Los Angeles wollen, taucht online oder auf Schildern bei Demonstrationen von "Black Lives Matter" auf.
In den ganzen USA schallt der Ruf "Defund the Police" durch die Reihen derer, die ein Umdenken fordern und nicht alle gesellschaftlichen Probleme bei der Polizei abgeladen sehen wollen; "streicht der Polizei das Geld". Deren Budgets sind insgesamt weit größer als 100 Milliarden Dollar. An den Problemen, für deren Bewältigung sie verantwortlich sind, können sie nichts ändern: strukturelle Armut, psychische Probleme, Obdachlosigkeit. In Los Angeles, die zweitgrößte Stadt der USA, fließen insgesamt mehr als die Hälfte des verfügbaren Jahreshaushalts an das Police Department. Dort, wo es schon 1992 nach dem Tod des Afroamerikaners Rodney King von Polizeihand tagelange Proteste gab, die das US-Militär und die Nationalgarde gewaltsam niederschlugen.
Mindestens seit fünf Jahren schon fordert ein NGO-Bündnis um "Black Lives Matter" (BLM), einen großen Teil des Geldes für andere Dinge zu verwenden. Sie nennen sich die "People's Budget Coalition". Die Volkshaushalt-Koalition. Derzeit hören die Politiker zu, wenn BLM Forderungen stellt, weil die Aufmerksamkeit bis in den Kongress und ins Weiße Haus reicht. In Washington haben die oppositionellen Demokraten einen Gesetzentwurf zur Polizeireform eingebracht, wonach unter anderem gegen Rassismus geschult und die Verwendung von Militärausrüstung beschränkt werden soll. Die Republikaner wollen hingegen vor allem mehr Kontrolle der Polizeibeamten. Aber die Finanzierung dieser Polizei, die liegt in den Händen der Bundesstaaten, Städte und Kommunen.
"Die Menschen bekommen Krümel"
Seit in Los Angeles das Coronavirus um sich greift, ist die Arbeitslosigkeit nach den letzten verfügbaren Zahlen auf rund 20 Prozent geschnellt. Bürgermeister Eric Garcetti und der Stadtrat planten umfassende Kürzungen für das kommende Haushaltsjahr ab 1. Juli und wollten 16.000 Arbeitsplätze streichen; doch bei der Polizei legten sie im April 200 Millionen Dollar oben drauf. Eine Woche vor George Floyds Tod am 25. Mai machte eine Hilfsorganisation für Obdachlose die ungleichen Verhältnisse per Grafik anschaulich: "Los Angeles ist ein gescheiterter Staat", überschrieb sie Jane Nguyen. "Die Warteschlangen der Suppenküchen in meinem Viertel sind fünf Blocks lang. Der Bürgermeister will der Polizei mehr Geld geben und die Menschen bekommen Krümel." Eine Autorin der "Los Angeles Times" hält die Stadt für "kaputt".
Die Bürgerkoalition hat deshalb einen eigenen Haushaltsentwurf vorgelegt. Sie will nur noch ein Viertel der derzeit 1,8 Milliarden US-Dollar dem LAPD geben, den Rest würde sie in den unterentwickelten öffentlichen Nahverkehr investieren, in sozialen Wohnungsbau, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Krankenhäuser und vieles andere. "Durch Wohnungsbau, psychische Gesundheit, Parks und Schülerbetreuung schafft man sicherere Gemeinschaften, wo die Polizei immer weniger wichtig wird", wird die BLM-Mitgründerin in Los Angeles von "BuzzFeed" zitiert. "George Floyd hat ein neues Bewusstsein bei den Menschen geschaffen", sagt Abdullah.
Sowohl von Polizeigewalt als auch von Arbeitslosigkeit und Armut sind Afroamerikaner überproportional betroffen. Die Polizei tötete im Großraum Los Angeles seit dem Jahr 2000 insgesamt 886 Menschen. Fast 80 Prozent davon waren Afroamerikaner oder Latinos. Ein Viertel der Todesopfer waren Afroamerikaner, aber sie machen nur weniger als ein Zehntel der Bevölkerung aus. Kaum ein Vorfall wird untersucht. Doch die schiefen Verhältnisse beginnen schon bei Verkehrskontrollen, wo die Polizei Afroamerikaner fünfmal so häufig durchsucht wie Weiße. Diese Zahlen erklären unter anderem das Engagement von "Black Live Matters".
Dabei gibt es ganz andere Probleme: Nach Angaben der Initiative haben von den vier Millionen Einwohnern derzeit zwei Millionen Probleme, ihre Miete zu zahlen. Etwa 60.000 sind obdachlos. Die städtische Fürsorge beschränkt sich größtenteils darauf, dass die Polizei die Wohnungslosen aus der öffentlichen Wahrnehmung vertreibt. Die Forderung "Defund the Police" geht also weit über Polizeigewalt gegen Afroamerikaner hinaus. L.A. belegt dies deutlich. Nur acht Prozent der Bevölkerung sind Afroamerikaner, aber einer breit angelegten Umfrage der Bürgerkoalition zufolge sind mehr als 80 Prozent der Einwohner für eine weitgehend andere Verwendung des Polizeibudgets. Landesweit und in allen Bevölkerungsgruppen sind inzwischen 39 Prozent dafür, unter Afroamerikanern sind es 64 Prozent. Vor George Floyds Tod in Minneapolis unterstützten nur 16 Prozent Forderungen, Polizeigelder zu kürzen.
Die Proteste haben ein Umdenken ausgelöst - oder mindestens den Mut, schon vorhandene Wünsche auszusprechen. Entsprechend fordert die Bürgerkoalition ein rigoroses Ansetzen des Rotstifts bei der Polizei. Deren Budget soll auf ein Viertel der jetzigen Höhe schrumpfen. Die Veränderung wären die logische Fortführung einer bereits vorhandenen Entwicklung.
Der Gedanke, weniger Polizei würde auch mehr Kriminalität zulassen, liegt nahe. Doch seit zwei Jahrzehnten sinkt die Zahl der Gewaltverbrechen in den USA. Die Zahl der Polizisten je 1000 Einwohner ebenfalls. Dies ist wie eine Bestätigung fehlender wissenschaftlicher Belege darüber, dass mehr Polizeibeamte die Kriminalitätsrate verringern würden. Womöglich ist sogar das Gegenteil der Fall.
Volle Privatgefängnisse
"Law and Order"-Verfechter sagen, weniger Polizei führe zu mehr Kriminalität; eine Überzeugung, die sich mit rassistischen Vorurteilen vermischt. Kleinste Vergehen werden in den USA zum Teil rigoros bestraft, weil dies laut der "Broken Window"-These größere Verbrechen verhindert: Schon Müll auf der Straße oder eben ein beschädigtes Fenster sei ein Signal, dass die Kontrolle schwach sei und ermutige deshalb zu schlimmeren Vergehen. Dies vermischt sich mit Polizeiarbeit, die auf bestimmte Viertel mit unterdurchschnittlichen Einkommen abzielt, wo vorrangig keine Weißen wohnen. Statt dortige strukturelle Probleme anzugehen, fließt das Geld an die Polizei, die sich dort in soziale Angelegenheiten, etwa in pädagogische Schularbeit einmischt und mit harter Hand vorgeht.
Eine Folge sind mehr Menschen hinter Gittern als in jedem anderen Land der Welt. Der Kreislauf erhält Arbeitsplätze in Gefängnissen, die in Unternehmerhand sind, und für jene, die in Uniform auf den Straßen unterwegs sind. Ihn zu durchbrechen wäre eine Zeitenwende. In Los Angeles wehrt sich deshalb etwa die Polizeigewerkschaft gegen die Pläne der Bürgerkoalition. "Defund the Police? Sie könnten auch sagen: Öffnen sie Ihr Haus für Verbrecher", heißt es in einem lokalen TV-Werbespot warnend. Bei weniger Geld für die Polizei bräuchte schon die Beantwortung von Notrufen länger als bisher, kündigt die Gewerkschaft an. Würde der Vorschlag umgesetzt, blieben von fast 10.000 Polizisten nur noch 900. "Es wäre ein wahr gewordener Traum für Gangs und Verbrecher."
Um ihre Arbeit zu verteidigen, legt sich die Gewerkschaft auch mit dem Bürgermeister an, seit dieser sie als potenzielle "Killer" bezeichnet hat. Die Gewerkschaft beschwerte sich per Brief über Garcetti, sie sei "sehr besorgt über seine Fähigkeit, die Stadt zu führen". Der Bürgermeister habe "anscheinend seinen verdammten Verstand verloren" ("lost his f*cking mind"). Falls es rechtlich möglich wäre, würde sie Garcetti aus seinem Amt entfernen wollen. Doch der Druck der Straße und Medien auf den Bürgermeister ist offenbar stärker. Seit vor seinem Haus und dem Rathaus Tausende Demonstranten auftauchten, bewegt er sich zumindest ein bisschen. Statt 200 Millionen Dollar draufzulegen, hat er eine Kürzung von 150 Millionen Dollar des Polizeibudgets in Aussicht gestellt.
Der Bürgerkoalition ist das viel zu wenig. "Er reagiert nur aus politischem Kalkül", sagt Abdullah: "Wir müssen ihm klarmachen, dass er seine politischen Ziele nicht erreichen wird, solange er nicht die Menschen repräsentiert, von denen er behauptet, dass er sie repräsentiert."
Quelle: ntv.de
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