Noch sechs Monate bleiben Großbritannien und der EU, um innerhalb der regulären Verhandlungsfrist die Bedingungen ihrer Scheidung zu regeln. Dass dies gelingt, glauben viele deutsche Unternehmen aber nicht mehr. 30 Prozent gehen von einem sogenannten No-Deal-Brexit ohne Abkommen aus. Das ergab eine Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) mit der Unternehmensberatung Deloitte, die am Freitag veröffentlicht wird und dem SPIEGEL vorab vorlag.
Die Umfrage wurde Ende Mai erhoben. Damals glaubte immerhin ein Viertel noch, dass es zu einer Verhandlungsverlängerung kommt, die Premierminister Boris Johnson aber seitdem erneut klar ausgeschlossen hat. Gut ein weiteres Viertel (26 Prozent) setzte auf einen umfassenden Freihandelsvertrag. 18 Prozent erwarteten zumindest den Abschluss eines Basisabkommens.
Für die Studie wurden 248 deutsche Großunternehmen befragt, die wirtschaftliche Beziehungen zum Vereinigten Königreich pflegen. Für viele von ihnen ist ein harter Brexit eine Horrorvorstellung, 38 Prozent rechnen in diesem Fall mit hohen Schäden. Allerdings schleppen sich die Verhandlungen schon so lange hin, dass Unternehmen genügend Zeit hatten, sich auf den Brexit einzustellen: Knapp drei Viertel fühlen sich mittlerweile "gut" oder "sehr gut" vorbereitet, gut ein Fünftel dagegen "schlecht" oder "sehr schlecht".
Die höchsten Verluste befürchtet die Bankenbranche, wo man sich zugleich auch besonders schlecht vorbereitet fühlt. Im Fall eines harten Brexits würde hier jedes zweite Unternehmen Stellen abbauen. Vergleichsweise gut gewappnet und wenig betroffen fühlen sich hingegen Vertreter der Automobilbranche. Hier würde ein harter Brexit aber immer noch bei jeder dritten Firma zu Jobabbau führen.
"Unternehmen beobachten Verhandlungen sehr genau"
Zusätzlich erschwert wird die Lage durch die Corona-Pandemie, bei der Großbritannien zu den am stärksten betroffenen Ländern gehört. Mehr als ein Viertel der Befragten (28 Prozent) schiebt wegen der Krise Brexit-Maßnahmen auf, 15 Prozent verstärken die Vorbereitungen. Fast die Hälfte der Befragten (46 Prozent) gab jedoch an, das Vorgehen bleibe unverändert.
Das vorherrschende Gefühl bezüglich des Brexits bleibt Unsicherheit. 38 Prozent der Befragten wählten den Begriff als beste Beschreibung der internen Stimmung. Und diese Unsicherheit habe schon heute Folgen, warnt der BDI.
"Unsere Unternehmen beobachten die Brexit-Verhandlungen sehr genau", sagt BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. "Mit der andauernden Unsicherheit passen sie ihre Wertschöpfungsketten an." Ohne eine baldige Perspektive für eine künftige Wirtschaftspartnerschaft bestehe "die Gefahr, dass sich die Verlagerungen weg von Großbritannien auf andere Standorte beschleunigen".
spiegel
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