Eyleen Valenzuela kämpft bei ihrer Arbeit in einem öffentlichen Krankenhaus gegen das Coronavirus an - und jeden Tag ums Überleben. Die 35-Jährige verdient rund 400 Euro im Monat, muss derzeit viele unbezahlte Überstunden machen und riskiert täglich, sich anzustecken, weil es im Krankenhaus an Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmitteln mangelt. Ihr Ehemann erhält nur noch die Hälfte seines Lohns, beide sind verschuldet.
Wie ihr geht es vielen Chilenen in diesen Monaten. "Viele haben ihre Arbeit verloren. Sie haben kein Einkommen, können ihre Strom- und Wasserrechnungen nicht bezahlen und sich keine Lebensmittel leisten", sagt Valenzuela.
Vergangene Woche ist die Krankenschwester deshalb trotz Pandemie in dem Viertel Villa Francia in Chiles Hauptstadt Santiago mit ihren Nachbarn und ihrer Familie auf die Straße gegangen. Beim sogenannten cacerolazo schlugen sie mit Löffeln auf leere Kochtöpfe, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Doch statt Zugeständnissen kam es zu Polizeigewalt: Eyleen Valenzuela und ihre schwangere Cousine wurden von einem Tränengasfahrzeug der Polizei angefahren, die den Protest gewaltsam auflöste. "Die Repression war unmenschlich", so Valenzuela.
Die Proteste in den ersten Julitagen waren ein Aufstand gegen Gegenwart und Vergangenheit zugleich: Der 2. und 3. Juli haben eine historische Bedeutung in Chile: 1986 wurde an diesen Tagen gegen die Pinochet-Diktatur protestiert. Damals gingen die Bürger bei einem Massenprotest für ein neues, demokratisches Chile auf die Straße und lehnten sich gegen das Militärregime auf, das Tausende Regierungskritiker folterte, ermordete und verschwinden ließ.
2020 richten sich die Proteste gegen die Regierung von Sebastián Piñera - und gegen die Corona-Folgen, aber auch die neoliberale Politik, deren Wurzeln in die Zeit der Militärdiktatur reichen.
Wut auf die Regierung
In der Pandemie offenbart sich die Zerrissenheit des Landes wie unter einem Brennglas. Die Ungleichheit ist extrem, viele Bürger fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen. Vor allem in ärmeren Vierteln weiten sich die Proteste seit Mai aus, immer wieder kommt es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Die Wut flammt ständig auf - auch wenn sie noch kein Flächenbrand ist wie bei den Massenprotesten, die im Oktober 2019 ausgebrochen waren.
"Chile war mitten in einer Gesellschaftskrise, als die Pandemie begann - die Coronakrise hat etwas unterbrochen, was in Bewegung war. Dazu kommt jetzt auch die Unzufriedenheit mit den Folgen der Krise und dem Krisenmanagement der Regierung", sagt Claudia Zilla, Lateinamerika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Es ist wie bei einem Patienten auf der Intensivstation, dessen Aufenthalt nochmals verlängert wird."
Chile liegt bei den Infektionszahlen derzeit nach Brasilien und Peru an dritter Stelle in Lateinamerika. Mehr als 300.000 Infektionen sind bisher registriert, mehr als 6400 Menschen sind an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben. Trotz Ausgangssperren habe es Zilla zufolge anfangs viele Schlupflöcher gegeben, die den Menschen noch erlaubt hätten, zur Arbeit zu gehen - so sei es nicht gelungen, die Infektionsketten effektiv zu durchbrechen.
Bereits im Mai waren laut einer Studie der Universität Chile 87 Prozent der Intensivbetten für Covid-Notfälle in öffentlichen Krankenhäusern in der Metropolregion von Santiago belegt; Experten warnten vor fehlenden Beatmungsgeräten. Die Krise verdeutlicht einmal mehr die Schwächen von Chiles Zweiklassen-Gesundheitssystem: Während rund 20 Prozent der Bevölkerung in privaten Krankenhäusern mit guten Ressourcen und Fachpersonal versorgt werden, ist die Mehrheit der Bevölkerung auf das überforderte und schlecht ausgestattete öffentliche Gesundheitssystem angewiesen.
Besonders in den dicht besiedelten Armenvierteln am Rand der Hauptstadt kann sich das Virus leicht ausbreiten - gleichzeitig fehlt den Bewohnern, die oft in informellen Sektoren arbeiten, die finanzielle Absicherung und Geld für eine gute Gesundheitsversorgung. Viele fürchten, dass sie eher an Folgen von Hunger sterben als an Corona.
Bei den Protesten wird daher auch verhandelt, wie lange das neoliberale System, das so viele als Verlierer zurücklässt, noch haltbar ist. Nicht nur der Gesundheitssektor, auch Bildung oder Wasser sind in Chile privatisiert - und teuer.
Die Krankenschwester Eyleen Valenzuela aus Villa Francia fordert jetzt schnelle Soforthilfen von der Regierung: Mietzahlungen, Strom- und Wasserrechnungen sowie Schulgebühren sollten ausgesetzt werden: "Ich muss für meine Kinder die Schulgebühren bezahlen, obwohl sie gar keinen Unterricht haben", sagt sie. "Dabei sollte Bildung kostenlos sein. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass es auch schon vor dem Coronavirus Probleme gab. Deshalb brauchen wir einen tiefgründigen Wandel und eine neue Verfassung."
spiegel
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