Merkel ist doch nicht schuld an der Flüchtlingskrise
Hat sie jetzt endgültig jeden Rückhalt verloren? Ist es endlich so weit? Die eiserne Kanzlerin in einer Koalition der wenigen? Zumindest der erste Einspieler will diesen Eindruck vermitteln: Eine schlecht retuschierte Angela-Merkel-Freiheitsstatue bröckelt dahin, unterlegt mit Mozarts Requiem. Toll. Da freut man sich als Fernsehzuschauer. Komplexe Sachverhalte so anschaulich auf den Punkt gebracht. Es wäre ja mal spannend zu erfahren, was Frau Merkel dazu sagen würde, was alle anderen von ihr denken. Aber die hat vermutlich Besseres zu tun, als sich selbst zu diskutieren. So müssen andere einspringen. Wie zum Beispiel Edmund Stoiber, Ministerpräsident a. D. und CSU-Ehrenvorsitzender.
Attacke von rechts, Verteidigung von links
Angela Merkel, so sein Votum, sei "doch nicht schuld an der Flüchtlingskrise". Dennoch habe sie laut Stoiber die falschen Entscheidungen getroffen. Die Einladung sei eine große Geste gewesen, doch politisch eine Verpuffungsreaktion. Keiner in Europa folge Deutschland, alle sähen die Flüchtlingskrise als deutsches Problem.
Sigmar Gabriel gibt ihm zumindest in der Sache recht: "Wir wissen alle, dass wir nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge integrieren können", so der SPD-Vizekanzler. Man stehe vor der Herausforderung, humanitäre Pflichten mit der Gefahr misslingender Integration zu versöhnen. Seine größte Sorge: Das, was in Europa in den vergangenen 70 Jahren mit großer Anstrengung aufgebaut wurde, sei in Gefahr. Doch Gabriel scheut sich nicht, einen Schuldigen zu benennen:
Was ihn ärgere, sei die doppelte Haltung der Union – die Betonung von Weltoffenheit bei gleichzeitiger Weigerung, Geld für konkrete Maßnahmen auszugeben. "Man muss Mut haben, den Menschen zu erklären: Das geht nicht zum Nulltarif!" Angela Merkel verteidigt er trotzdem – die Krise sei nicht ihre Schuld. Eine Haltung, die Christoph Schwennicke, den Chefredakteur des "Cicero", prompt zur Frage verleitet, warum Merkel sich nicht hinstelle und sage, dass man an der Leistungsgrenze angelangt sei.
Während die einen sich darüber zanken, was Merkel falsch gemacht hat oder falsch macht, spricht Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, einen ganz allgemeinen Punkt an: "Das C ist den christlichen Parteien abhandengekommen", so Rekowski. Als Christinnen und Christen habe man eine Verantwortung für die Flüchtlinge. "Wenn wir sagen, wir kommen an Grenzen, dann müssen wir an anderer Stelle helfen."
Auf ein Weltproblem mit nationalen Entscheidungen reagieren sei nicht die Lösung. Auch die, abgesehen von Maybrit Illner, einzige Frau in der Runde, Melissa Fleming, ihres Zeichens Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks, stimmt ihm in diesem Punkt zu. "Die Flüchtlingsländer wurden vernachlässigt", klagt sie. Man habe immer nur 50 Prozent der benötigten Gelder bekommen. Die Kombination aus keiner Hoffnung auf ein Ende des Krieges und einem Leben vor Ort, das kaum erträglich sei, führe selbstverständlich dazu, dass viele Richtung Europa aufbrächen. "Viele wollen lieber zu Hause bleiben, aber sie können nicht."
Edmund Stoiber ist kaum noch zu bremsen
Richtig zur Sache geht es in der Sendung aber erst, als Illner Edmund Stoiber direkt fragt, was die angestrebte Verfassungsklage der CSU bringen soll. Da gerät der Wolfratshausener so richtig in Schwung, ereifert sich, wie zu besten Transrapid-Zeiten und erntet eine Menge Applaus. Die bayerische Staatsregierung habe eine Verantwortung vor 13 Millionen Menschen. "Wir können uns nicht so schnell auf neue Verhältnisse einstellen", so Stoiber. "Unser Herz ist weit, aber Möglichkeiten sind begrenzt." Man nehme die Mehrheit zu wenig mit, da seien auch radikale Maßnahmen nötig. Will heißen: Zur Not klagt man gegen die eigene Schwesterpartei.
Stoiber gerät in dieser Frage so richtig unter Dampf, ist kaum noch zu bremsen. Rekowski startet dennoch einen Versuch: "Ich wünschte mir ebenso viel Entschlossenheit, wenn es um die Bekämpfung von Fluchtursachen ginge", schmeißt er Stoiber an den Kopf. Das ruft wiederum Schwennicke auf den Plan. Probleme löse man vor Ort nicht so schnell. "Mir ist dieses Fluchtursachen-bekämpfen-Argument immer etwas zu wenig." Es stimme zwar im Kern, aber im Moment gäbe es dringendere Probleme. Sigmar Gabriel weist das zurück, und so gerät sich die Runde auch hierüber erwartungsgemäß in die Haare, bis Maybrit Illner wieder zum eigentlichen Thema zurückleitet.
"Wie allein ist die Kanzlerin?", will sie von Frau Fleming wissen. Die nutzt die Antwort zum Konter gegen alle Kritik Stoibers und Schwennickes an der Politik Merkels. "Europa hat Deutschland im Stich gelassen, nicht Deutschland Europa." Wenn alle ihre Pflicht getan hätten, hätte man das Problem nicht. Die geforderten Grenzschließungen hingegen seien keine Lösungen. "Es wird dann einfach teurer werden oder aufwendiger für die Flüchtlinge, aber die Ströme werden sich umleiten." Das Problem verschwindet nicht, nur weil man versucht, es auszusperren.
Gabriel sieht das ähnlich. Von 28 Mitgliedsstaaten nähmen 23 keine Flüchtlinge auf, und das sei ein Vergehen. "Es ist Geschichtsklitterung zu behaupten, Merkel hätte Recht gebrochen", verteidigt der Vizekanzler seine Vorgesetzte. Gänzlich die Schuld beim Rest sucht er dennoch nicht: Deutschland habe die anderen EU-Staaten früher durch Dublin III im Stich gelassen und bekomme jetzt die Quittung.
Gabriel stellt die spannendste Frage
Wird es eine Lösung geben nach dem Gipfel? Gabriel zumindest ist sich sicher. "Die EU ist immer dann stärker geworden, wenn sie in Krisen war." Er vermutet, dass es am Ende eine Mischung aus einer stärkeren Außengrenzensicherung und einer Koalition der Willigen geben werde. Einen wichtigen Punkt spricht Maybrit Illner kurz darauf an: Wie verhindere man, dass die kleinen Leute den Eindruck bekämen, dass sie die Zeche zu zahlen hätten? Schwennicke greift Gabriel dafür direkt an, wirft ihm vor, er habe keinen erkennbaren Kurs. "Sie machen einen Fehler, wenn Sie zu wenig auf die Klientel an der Basis schauen, die besorgt ist."
Der lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. "Es gibt zwei Integrationsaufgaben: Die, die kommen, und die, die da sind", entgegnet er Schwennicke. Gewisse Projekte dürften nicht nach hinten gestellt werden. Dennoch, der Satz "Für die macht ihr alles, für uns nix" sei brandgefährlich, und er höre ihn jeden Tag. Doch Gabriel legt auch den Finger in die Wunde, fragt, wie es möglich sein soll, Hilfe für die Flüchtlinge und für die eigene Bevölkerung unter einen Hut zu bringen, wenn man weiter auf der "schwarzen Null" beharre. Eine berechtigte Frage, in der ihm indirekt sogar Edmund Stoiber zustimmen muss.
Zuletzt, als sich die Sendung dem Ende zuneigt, wendet man sich der Radikalisierung in der Politik zu. Warum verliert die SPD so viele Stimmen, warum gewinnt die AfD allerorts? Gabriel erklärt es mit der Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft. Die Mitte und links teile man sich mit drei Parteien, die Mitte und rechts mit einer. Die Flüchtlingspolitik ist für ihn bei aller Ausdifferenzierung dennoch nur ein Katalysator, aber nicht Auslöser für die Probleme der Parteien. Ein Frust gegen das Establishment breche sich Bahn, nicht nur in Deutschland, sondern zum Beispiel auch in den USA. Edmund Stoiber sieht das Problem hingegen in der mangelnden Wahlbeteiligung. Gleichzeitig sei die CSU die Partei, die nicht nur für Bayern spreche, sondern für viele in Deutschland.
Schwennicke hingegen ist der Meinung, das Land sei politpsychologisch aus dem Lot. Grund ist für ihn die große Koalition. Ein politischer Ausnahmezustand sei zum Dauerzustand geworden, an den Rändern breche es deswegen auf. Gabriel würde das gerne glauben, doch er sieht das Problem an anderer Stelle: "Es geht nicht um die Ränder, und da hat Herr Stoiber recht." Die Mitte sei das Problem. Warum, das sei nur schwer zu verstehen. Immerhin, hoffnungsvoll ist er. "Wir haben alle Krisen durchlebt", beharrt Gabriel am Ende. Einige in der Runde haben da sehr sichtbar und nicht ganz zu Unrecht ihre Zweifel. Fakt ist: Es bleibt spannend. Zumindest die Diskussionsrunde war es an diesem Abend auch.
Quelle : WELT.DE