"Was den Schulen fehlt? Fast alles."

  12 Auqust 2020    Gelesen: 524
"Was den Schulen fehlt? Fast alles."

In der Corona-Krise folgt die Bildungspolitik dem Prinzip Hoffnung, kritisiert Udo Beckmann, Vorsitzender der Lehrergewerkschaft VBE. Nicht zum ersten Mal habe die Politik Erwartungen geweckt, die mit den vorhandenen Ressourcen der Schulen nicht umsetzbar seien.

ntv.de: Von Lehrerinnen und Lehrern hört man, dass die Schulen von den Schulverwaltungen nur wenig Unterstützung erfahren. Ist das ein zufälliger Eindruck oder können Sie das bestätigen?

Udo Beckmann: Das ist kein zufälliger Eindruck und hat auch leider nicht erst mit Corona angefangen. Umfragen, die wir vor der Corona-Krise durchgeführt haben, zeigen, dass die Lehrkräfte sich von der Politik weitgehend allein gelassen fühlen. Es kommt häufig vor, dass die Politik in der Gesellschaft und bei den Eltern Erwartungen weckt, die mit den vorhandenen Ressourcen der Schulen einfach nicht umsetzbar sind. In allen repräsentativen Umfragen, die wir gemacht haben, kritisieren sowohl Lehrkräfte als auch Schulleitungen immer wieder die Realitätsferne der Politik.

Welche Erwartungen meinen Sie?

Nehmen Sie das Thema Digitalisierung. Im Oktober 2016 hat die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka angekündigt, dass der Bund den Schulen fünf Milliarden Euro geben wird, um die "Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft" voranzutreiben. Darauf folgte ein ganzer Rattenschwanz an Diskussionen. Zustande kam der Digitalpakt erst im vergangenen Jahr. Wenn aber verkündet wird, dass die Schulen Geld bekommen, dann entsteht bei Eltern die Erwartung, dass das in naher Zukunft an den Schulen ihrer Kinder ankommt. Wenn nichts passiert, denken viele, dass es an den Schulen und an den Lehrkräften liegt.

In Brandenburg, wo die Schule am Montag begonnen hat, sagte die Bildungsministerin erst, es sei keine Maskenpflicht geplant. Eine Woche später gab es die Maskenpflicht doch. Wie kommt so etwas in den Kollegien an?

Gar nicht gut. Die Kommunikation der Schulbürokratie seit Beginn der Corona-Krise ist ein echtes Problem. Viele Lehrkräfte haben den Eindruck, dass sie aus den Nachrichten mehr erfahren als von den zuständigen Behörden. Aus NRW gibt es da auch so ein Beispiel: Als dort die Grundschulen wieder geöffnet werden sollten, gab es kurz vor dem geplanten ein Termin völlig widersprüchliche Informationen aus dem Schulministerium und von Ministerpräsident Laschet. Ein solches Hin und Her sorgt für Verunsicherung und ist auch ärgerlich, weil Schulen und Eltern Zeit brauchen, sich auf die neue Situation einzustellen.

In vielen Fächern gibt es ja zentrale Prüfungen. Gibt es irgendwelche Anpassungen bei den Rahmenplänen, damit am Ende nicht Stoff geprüft wird, von dem einige Schülerinnen und Schüler noch nie gehört haben?

Das ist eine Aufgabe, der sich die Kultusbürokratie jetzt stellen muss. Denn nach wie vor gibt es das Versprechen der Kultusministerkonferenz, dass die Kinder, die in der Pandemiezeit Abschlüsse machen, nicht benachteiligt werden. Vor allen Dingen wird man darüber reden müssen, wie die Lehrpläne entschlackt werden können, ohne das Bildungsangebot grundsätzlich einzuschränken. Ich warne davor, sich in dieser Diskussion nur auf die Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch und die anderen Fremdsprachen zu fokussieren. Wenn es Einschränkungen gibt, muss das ausgewogen sein. Es darf nicht dazu führen, dass zum Beispiel die künstlerisch-musischen Fächer gestrichen werden.

Aber passiert ist da noch nichts?

Passiert ist da konkret bisher nichts. Es gibt nur Aussagen, dass man das tun muss.

Ist das nicht peinlich? Die ersten Bundesländer haben ja längst wieder mit der Schule angefangen, in Nordrhein-Westfalen geht es heute los.

Ja, wobei man bedenken muss, dass die Zeiträume relativ kurz waren. Allerdings hängt es sicherlich auch damit zusammen, dass vor den Sommerferien immer so getan wurde, als werde man zu Beginn des neuen Schuljahres wieder relativ normal starten können. Vieles von dem, was da passiert beziehungsweise nicht passiert ist, wurde vom Prinzip Hoffnung getragen. Die ersten Schulschließungen zeigen ja aber, dass es immer mindestens einen Plan B braucht.

Baden-Württemberg bietet in den letzten beiden Wochen der Sommerferien sogenannte Lernbrücken an. Dies wird kritisiert, weil das Personal erst auf die letzte Minute gewonnen werden konnte und zum Teil fachfremd ist. Wie müssten Unterstützungsmaßnahmen beschaffen sein, die wirklich etwas nutzen?

Unterstützungsmaßnahmen, die wirklich helfen, müssen in den Schulen selbst angesiedelt werden. Die Schulen müssen im laufenden Schuljahr die Möglichkeit erhalten, Lerndefizite im erforderlichen Maße auszugleichen. Vollumfänglich gelingen wird das nicht - deshalb ist neben der Entschlackung auch die individuelle Förderung notwendig. All das, was wir schon lange als Defizite im Bildungssystem identifiziert haben - die Personalausstattung, die mangelnde Digitalisierung, zu große Lerngruppen -, fällt uns durch Corona doppelt und dreifach auf die Füße.

Eine Befragung des Ifo-Instituts hat ergeben, dass 67 Prozent der Eltern sagen, ihr Kind habe weniger als einmal pro Woche individuellen Kontakt mit einer Lehrkraft gehabt. 45 Prozent sagen, ihr Kind hätte nie individuelle Gespräche gehabt. Würden Sie sagen, dass das realistische Zahlen sind? Und wie könnte das verbessert werden?

Man muss natürlich sagen, dass sowohl die Lehrkräfte als auch die Schulen von den Schließungen überrascht waren und es in vielen Fällen keine vorbereiteten Kommunikationswege gab. Lehrkräfte und Schulen waren hier mehr oder weniger auf sich gestellt. Zudem gibt es Schülerinnen und Schüler und Eltern, die schon vor Corona für die Lehrkräfte nicht erreichbar waren. Hätten wir bei der Digitalisierung der Schulen nicht zweieinhalb Jahre verplempert, dann wäre vieles leichter gewesen. Denn wir wissen aus anderen Befragungen, dass dort, wo die Ausstattung der Schulen entsprechend war, die Erreichbarkeit der Schülerinnen und Schüler weitgehend sichergestellt war. Fakt ist, dass Lehrerinnen und Lehrer und die Schulen insgesamt viele sehr kreative Wege beschritten haben, um die Schülerinnen und Schüler zu erreichen - vom individuellen Anruf zuhause bis hin Videokonferenzen.

Datenschutzbeauftragte oder auch manche Eltern hatten bei Programmen wie Teams oder Zoom Bedenken…

Diese kreativen Lösungen, von denen ich gesprochen habe, waren sicherlich manchmal am Rande des Datenschutzes. Einige Ministerien haben dann offizielle Genehmigungen erteilt, andere haben die Nutzung untersagt. Auch da fehlten klare Ansagen, mit welchen Programmen die Lehrkräfte arbeiten dürfen. Einige Lernplattformen, die es in einzelnen Ländern gab, sind dann gleich in die Knie gegangen, weil zu viele Nutzer auf einmal darauf zugegriffen haben.

Wie könnte denn eine pragmatische und rechtssichere Lösung aussehen?

Eine rechtssichere Lösung sieht so aus, dass die Ministerien ganz klar beschreiben, welche Programme genutzt werden dürfen und welche nicht. Außerdem müssen die Lernplattformen aufgerüstet werden. Und schließlich müssen die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler entsprechend ausgestattet und fortgebildet werden.

Gibt es denn genug Fortbildungen für Lehrer mit Blick auf digitale Tools?

Nein. Wir haben schon im Rahmen des Digitalpakts eine Fortbildungsoffensive der Ministerien gefordert. Das ist bisher nicht erfolgt. Ich habe auch erwartet, dass jetzt bei den Schuljahrespressekonferenzen Konzepte vorgelegt werden, wie das jetzt schnell bewerkstelligt wird. Auch das kann ich nicht erkennen, zumindest nicht flächendeckend. Hier gibt es noch sehr viel Nachholbedarf. Ich habe das Gefühl, dass nach den großmundigen Ankündigungen über eine schnelle Ausstattung der Schulen mit Laptops bisher nichts Erkennbares passiert ist.

Was fehlt denn am meisten: Endgeräte, Fachpersonal, technische Infrastruktur?

Fast alles. In manchen Schulen gibt es keinen Zugang zum Breitbandnetz, in manchen Schulen gibt es kein WLAN. Laptops fehlen fast überall. Der Support ist nicht sichergestellt und die Schulleitungen werden beim Schreiben der Anträge alleine gelassen. Ich habe die große Sorge, dass wir immer noch nicht besser aufgestellt sind als vorher, wenn es aufgrund des Infektionsgeschehens wieder vermehrt zu Schulschließungen kommt.

Was würden Sie heute veranlassen, wenn Sie Kultusminister in einem Bundesland wie Bayern oder Baden-Württemberg wären, das die Ferien noch weitgehend vor sich hat?

Ich würde veranlassen, dass ein Konzept für eine flächendeckende Fortbildung im Bereich Digitalisierung entwickelt wird. Ich würde veranlassen, dass eine flächendeckende Ausstattung mit Endgeräten gewährleistet ist. Und ich würde versuchen, für die Schulen so viel multiprofessionelle Unterstützung zu bekommen, wie irgend möglich. Das alles wäre die Basis meines Plan B, der da heißt: Wie kann die Kommunikation mit Schülerinnen und Schülern im Homelearning gelingen?

Multiprofessionelle Unterstützung?

Unterstützung durch andere Berufe wie zum Beispiel Schulsozialarbeit, Psychologen, Schulgesundheitsfachkräften, Erzieherinnen und andere.

Wie kann dafür gesorgt werden, dass jede Schülerin und jeder Schüler ein Endgerät hat?

Indem der Staat das Geld zur Verfügung stellt. Ich schätze, dass man bis zu vier Milliarden Euro in die Hand nehmen müsste, um die Schulen flächendeckend auszustatten. Die Wirtschaft wurde in der Corona-Krise mit vielen Milliarden unterstützt, was ich auch völlig richtig finde. Aber dass es nicht möglich sein soll, endlich die digitale Grundversorgung aller Schulen umzusetzen, das verstehe ich nicht. Der Bonus des Kindergeldes hat gezeigt, dass es möglich wäre, diese Summe in die Hand zu nehmen.

Mit Udo Beckmann sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de


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