Mehr Mut zu keiner Meinung

  13 Auqust 2020    Gelesen: 503
Mehr Mut zu keiner Meinung

"Die Zeit" spricht mit dem Virologen Christian Drosten – und verlangt im Internet Geld für die Lektüre des Artikels. Ein Unding, schimpfen viele Nutzer auf Twitter und kommentieren den Text fleißig – ohne ihn zu kennen. Hier läuft etwas schief, findet Nicole Diekmann.

Es gibt einen Satz, der das ganze gigantische System namens Social Media zum Implodieren bringen könnte. Er lautet: "Dazu habe ich keine Meinung." Ich schreibe bewusst "könnte". Aus der Praxis ist darüber nichts bekannt. Denn dieser Satz ist bisher weder bei Facebook noch bei Twitter aufgetaucht. So etwas dort zu posten, käme einem öffentlichen Aufbegehren gleich. 

Wer nämlich bei Social Media dazugehören will, muss eine Meinung haben – am besten prägnant, von jeglichem Zweifel komplett frei, getippt mit festem, unbeirrten Blick und leicht vorgerecktem Kinn. Keine Graustufen, keine impliziten Fragezeichen. Einen Tweet zu tippen, dauert ein paar Sekunden; ihn zu lesen ebenfalls. Viel länger darf der Prozess des Verstehens nicht in Anspruch nehmen, da könnten wir ja gleich Zeitung lesen!

Müssen journalistische Texte im Netz stets kostenlos sein?
A propos Zeitung: Ein wesentlicher Bestandteil der Social Media-Folklore ist das vernichtende Aburteilen von Zeitungs- oder Onlineartikeln. Und zwar auf zwei Ebenen:

Erstens auf prinzipieller: Es wird als bodenlose Frechheit betrachtet, Geld zu verlangen. Eine goldene Regel besagt: "Die Verleger haben das Internet bis heute nicht verstanden", (stimmt in weiten Teilen), "die Bezahlmodelle sind vorsintflutlich, weil nicht einzelne Artikel, sondern gleich komplette Abos erworben werden müssen oder aber die Ausgabe einer Zeitung/Zeitschrift" (auch richtig), "also kaufen wir das alles nicht".

Den letzten Punkt halte ich für gefährlichen Unsinn. Journalistinnen und Journalisten sind darauf angewiesen, für ihre Arbeit bezahlt zu werden, denn anders als von Vielen kolportiert, werden wir nicht von der Regierung finanziert und müssen für Miete, Essen und Klopapier genauso Geld auf den Tisch legen wie andere Leute. Und sind Texte nicht hinter Bezahlschranken verborgen, begleicht der Leser diese Rechnung durch das Betrachten eingeblendeter Werbeanzeigen – und bei vielen Verlagen reicht das allein eben nicht.

Zum Bezahlen gezwungen wird hier keiner: Der mündige Konsument kann Kaufentscheidungen frei treffen. Zeitungen zählen meiner Meinung nach zwar zum unverzichtbaren Grundstock intellektueller und demokratischer Diskurse, aber nacktes Überleben ist natürlich auch ohne sie möglich. Schwierig ist allerdings, dass es nicht beim bloßen Nicht-Kaufen bleibt. Statt dessen wird munter gegen die Presse geschimpft – und zwar längst nicht mehr nur von rechts.

Ein Beispiel: In der aktuellen Ausgabe der "Zeit" findet sich ein Gastbeitrag des Virologen Christian Drosten, in dem er Gegenstrategien zur befürchteten zweiten Corona-Welle nennt. Dieser Artikel steckte anfangs hinter der Bezahlschranke (inzwischen kann ihn jedermann lesen, eine Zusammenfassung finden Sie hier). Betriebswirtschaftlich völlig nachvollziehbar: Man kann damit rechnen, dass sich viele für Drostens Ausführungen interessieren und hofft, mit solchen und anderen interessanten, gut recherchierten und differenzierten Artikeln weitere Abos zu verkaufen – und die sind für die kriselnde Zeitungsbranche wichtiger denn je.


Die Kostenlos-Mentalität vieler Nutzer ist gefährlich
Trotzdem erntete die "Zeit" Reaktionen wie diesen Tweet: "Ein Hoch auf all die @zeitonline-Abonnenten, die exklusiv den zweiten Lockdown verhindern", twitterte eine Userin (die maximalst möglich zur Mitte der Gesellschaft gehört) ironisch und erntete damit viel Zustimmung. Der implizite Vorwurf, dass die "Zeit" Geld verdienen möchte und muss, ist nicht nur naiv und weltfremd, er ist riskant: Denn wer soll die Arbeit der Redaktionen entlohnen, wenn ihre Arbeit den Leser nichts kosten darf? Der Staat? Das doch wohl unter gar keinen Umständen.

Doch diese Einstellung ist weit verbreitet, der zitierte Tweet einer von vielen dieser Tonart. Noch bizarrer wird es, betrachten wir die zweite Ebene, auf der kritisiert wird, nämlich die inhaltliche – oder sagen wir besser: die pseudoinhaltliche. Nach Meinung vieler User bauen die Redaktionen im Grunde am laufenden Band unglaublich viel Mist. Sie wissen nicht, was sie tun und ordnen ihrer maßlosen Gier ihren moralischen Kompass unter – was sich unter anderem in der Frechheit ausdrückt, Geld haben zu wollen für Artikel, die doch ALLE lesen können müssen.

Texte beurteilen, ohne sie gelesen zu haben – absurd
Die meisten Analysen, Interviews und Kommentare sind laut Twitter-Tenor Dreck, und das können die User auch beurteilen, ohne sie komplett gelesen zu haben. Ja, sie MÜSSEN sie sogar blind beurteilen, schließlich müsste man sonst ja dafür bezahlen, was gar nicht geht – siehe oben.

Das treibt mitunter Blüten, die selbst langjährigen und hartgesottenen Powernutzern der sozialen Netzwerke den Atem stocken lassen. 

Besonders eindringlich verfolgen ließ sich das bei der Debatte um das Spiegel-Porträt des radikalisierten und verhaltensauffälligen Corona-Aktivisten Attila Hildmann. Die Debatte, ob man solche Leute überhaupt auch nur mit einer Silbe erwähnen sollte, brach sich mit Erscheinen der Spiegel-Ausgabe sofort Bahn. Völlig normal, nachzulesen hier.

Schnell stellte sich heraus: Die Empörung Vieler fußte ausschließlich auf der Lektüre von Überschrift und Teaser, alles in allem also nur ein paar Sätze. Mehr hatten sie gar nicht gelesen. Der Text kostete Geld, und wir erinnern uns: Wir bezahlen nicht.


Die Verantwortung wird den Medien zugeschoben
Man regte sich also auf über einen Text, den man gar nicht kannte. Vertrauend auf die gute alte Tugend "Don’t judge a book by its cover" brachte ich diesen Einwand. Der zum Beispiel so beantwortet wurde: "Es ist ein Bezahltext. Die Leute urteilen nach Überschrift und Teaser. Beides sieht nach Normalisierung eines Hasstäters aus, was die Leute zurecht ärgert. 'Gebt dem @derspiegel erst Geld, bevor Ihr was über ihn twittert', halte ich für problematisch."

Kein Geld zahlen wollen für Texte oder Beiträge, trotzdem aber mitdiskutieren – so löst man also das Dilemma? Schuld ist das Medium, in diesem Fall der Spiegel – er könnte die Geschichte ja freigeben? Puh.

Das ist nicht nur eine selbstgefällige Verteidigung entblößender und unseriöser Oberflächlichkeit, sondern auch eine riskante Selbst-Entmündigung. Plötzlich sollen die Institutionen dafür Sorge tragen, dass Debatten differenziert bleiben und sich nicht nur auf Halbwissen aus Halbsätzen stützen. Die Presse hat zu liefern, und zwar am besten frei Haus. Diese Anspruchshaltung entwertet die Medien und die aufgeklärte Gesellschaft gleichermaßen. Und das ist gefährlich. Es fördert die Verkürzung und Polarisierung, es fördert Schwarz-Weiß-Denken.

Aber auf Twitter und Facebook muss das anscheinend sein. Es ist schlicht keine Option dort, nichts zu schreiben. Oder wenigstens "Ich kann mir dazu keine Meinung bilden". Probieren Sie es doch mal aus. Vielleicht explodiert dann ja irgendwo ein Server. Aber wissen Sie was? Meine Meinung dazu lautet: Auf einen Versuch käm’s an.


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