Einen Tag, nachdem in der belarussischen Hauptstadt Minsk erneut mehr als 100.000 Menschen auf die Straßen gegangen sind, um den Rücktritt des autoritär regierenden Staatchefs Alexander Lukaschenko zu fordern, sind zwei prominente Anführer der Demokratiebewegung festgenommen worden. Olga Kowalkowa und Sergej Dylewski arbeiten im Präsidium des Koordinierungsrates der Opposition, eines Gremiums, das einen Dialog mit dem Machtapparat anstrebt. Lukaschenko lehnt das Gespräch ab und droht damit, den Rat zu zerschlagen. Die belarussische Justiz hatte am Donnerstag strafrechtliche Ermittlungen gegen die Vereinigung eingeleitet.
"Es ist offensichtlich, dass die Regierung Angst vor ihrem eigenen Volk hat", sagt Maria Kolesnikowa, die ebenfalls dem Ratspräsidium angehört, der RTL/ntv-Redaktion. Die Politikerin zeigt sich zuversichtlich: Das Regime könne die Forderungen der Bürger nicht ewig ignorieren oder mit Gewalt unterdrücken. "Früher oder später wird sich die Regierung bereit erklären müssen, mit eigenem Volk in Dialog zu treten", so Kolesnikowa weiter. Ihr zufolge wird sich das belarussische Volk "nicht mit der Gewalt abfinden, mit dem Unrecht, welches heute passiert".
Seit mehr als zwei Wochen gibt es in Belarus Proteste und Streiks gegen Lukaschenko. Auslöser war die von Fälschungsvorwürfen überschattete Wahl, bei der sich der 65-Jährige mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären ließ. Die Opposition betrachtet die nach Litauen geflohene Swetlana Tichanowskaja als Wahlsiegerin. Auch die EU erkennt das Wahlergebnis nicht an. Als einen möglichen Ausweg aus der Krise schlägt der Koordinierungsrat eine Neuwahl vor. Diese müsste aber frei und fair sein, außerdem müssten zuvor alle politischen Gefangenen freigelassen und Gewaltaktionen gestoppt werden. "Das sind unsere Ziele und wir sind fest entschlossen, diese Ziele zu erreichen", sagt die 38-Jährige. Kolesnikowa, eigentlich Berufsmusikerin und Kulturmanagerin, leitete vor der Wahl das Team von Viktor Babariko, der von Beobachtern als stärkster Herausforderer Lukaschenkos angesehen wurde. Bevor die Wahlkampagne richtig starten konnte, wurde Babariko auf Anordnung des Staatschefs aus fadenscheinigen Gründen festgenommen - wie viele Gegner Lukaschenkos.
Maas ruft Lukaschenko zur Anerkennung der Realität auf
Bei einem Besuch in der benachbarten Ukraine rief Bundesaußenminister Heiko Maas den belarussischen Machthaber auf, sich der Realität in seinem Land zu stellen. "Lukaschenko muss nach diesem Wochenende voller Proteste die Realität auf den Straßen seines Landes anerkennen und die Realität in den Köpfen der Menschen in seinem Land", sagte Maas. Eine Lösung für die "extrem kritische Situation in Belarus" könne nur über einen "inklusiven Dialog" führen. Der Außenminister forderte außerdem von Russland, seinen Einfluss auf Lukaschenko zu nutzen. Diesem müsse deutlich gemacht werden, dass er an einem Dialog nicht mehr vorbeikomme.
Kolesnikowa betrachtet die Lage ähnlich und sieht eine mögliche Hilfe der Weltgemeinschaft darin, den Beginn eines friedlichen Dialogs in Belarus zu unterstützen. "Europa, aber auch Russland kann dazu beitragen", sagte die 38-Jährige der RTL/ntv-Redaktion.
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu Russland zu bauen"
Unterdessen stellte sich der Kreml einmal mehr an die Seite des autoritären Staatschefs. In einigen Dokumenten des neuen Koordinierungsrates der Opposition sei "der Schwerpunkt auf das Abnabeln von Russland gelegt" worden, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. "Der Kreml neigt zu Politikern in Belarus, die für eine Kooperation mit Russland sind", so Peskow weiter.
Auch belarussische Staatsmedien unterstellen der Opposition, dass sie einen Bruch mit Russland als wichtigstem Verbündeten anstrebt. Das wies der frühere Kulturminister Pawel Latuschko in Minsk ausdrücklich zurück. Im Koordinierungsrat gebe es keine radikalen russlandfeindlichen Kräfte. "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu Russland zu bauen", sagte er. Vielmehr gebe es heute keine politische Kraft in Belarus, die in der Lage wäre, mit einer gegen Russland gerichteten Politik mehrheitsfähig zu sein. Zudem seien beide Länder extrem eng im Außenhandel miteinander verbunden, sagte er bei einer Pressekonferenz. Mehr als 40 Prozent des Exports aus Belarus gingen in das Nachbarland, sagte Latuschko, der als früherer Diplomat und Minister das profilierteste Mitglied im Präsidium des Rates ist.
Lukaschenko bewaffnet seinen minderjährigen Sohn
Lukaschenko weist weiterhin alle Vermittlungsversuche zurück und weigert sich, in den Dialog zu treten. Stattdessen setzt der Staatschef, der auch "Europas letzter Diktator" genannt wird, weiter auf Härte. Bei einer Sitzung vor Beginn des neuen Schuljahres forderte er der Staatsagentur Belta zufolge, dass alle Lehrer, die ihn nicht unterstützten, entlassen werden sollten. Er hatte immer wieder Beschäftigten im Staatsdienst mit Kündigung und Entzug ihrer Lebensgrundlage gedroht, sollten sie die Proteste unterstützen.
Am Sonntag hatte sich Lukaschenko während der Proteste in Minsk mit einer Kalaschnikow gezeigt. In mehreren von seinem Presseteam verbreiteten Videos war auch Lukaschenkos 15-jähriger Sohn Nikolai zu sehen, ebenfalls in Kampfmontur und mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Es sei nicht in Ordnung, wenn ein Staatschef "in einer seltsamen Kleidung und mit Waffen in der Hand im Zentrum der Stadt rumläuft", kommentierte Kolesnikowa den umstrittenen Auftritt. Lukaschenko habe mehrmals über das angebliche Säbelrasseln der Nato an den belarussischen Grenzen gesprochen, doch "stattdessen sehen wir diesen einen Mann hier, der mit Waffen rasselt", fuhr Kolesnikowa fort. Die Politikerin forderte zudem die Behörden auf, die Rechtmäßigkeit "der Übergabe einer Kampfwaffe einem Minderjährigen" zu überprüfen.
Quelle: ntv.de, uzh/dpa/AFP
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