Im sonst so vollgepackten Sommerkalender der Berliner Politik-Events haben es manche Veranstaltungen schwerer als andere beim Publikum. Das gilt etwa für die Präsentation von Sammelbänden anlässlich eines Parteigeburtstages durch eine parteinahe Stiftung. In solchen Formaten hat es sich bewährt, einen prominenten Vertreter des gegnerischen Lagers einzuladen, um ein wenig Reibung zu erzeugen. Wohl auch deshalb lud der frühere Bundestagspräsident und heutige Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Norbert Lammert, die Bundesvorsitzende der Grünen ein. Annalena Baerbock sprach am Donnerstagabend bei der Präsentation eines Buches zu 75 Jahren CDU.
Die unter Angela Merkel in die Mitte gerückte CDU und die von ihrer Fundi-Vergangenheit abgerückten Grünen der Gegenwart machen leicht vergessen, dass beide Parteien einander lange spinnefeind waren. Die 40-jährige Baerbock aber kann sich in ihrer Ansprache daran erinnern: dass ihre Partei in den 80er und 90er Jahren das exakte Gegenmodell zur CDU war, mehr noch als die damals im Kern spießbürgerliche PDS. Baerbocks politische Sozialisation war die Gegnerschaft zu Helmut Kohl. Oder wie sie es an diesem Abend milde formuliert: "Mein politisches Verständnis reifte in den späten Jahren Kohls heran. (…) Für mich stach heraus, was fehlte", sagt Baerbock und zählt die grünen Herzensthemen Umweltschutz und Ablehnung der Kernenergie auf.
Auf jedes Lob folgt ein Anspruch an die CDU
Auf eine Abrechnung mit der Vergangenheit aber verzichtet die Brandenburger Abgeordnete aus Niedersachsen. Baerbock sagt, die Grünen hätten seinerzeit Kohls historische Leistungen nicht richtig einzuschätzen gewusst. "Die Grünen, das gehört zu unserer Selbstkritik, wir waren 89, 90 nicht nur gegen die Wiedervereinigung, sondern auch 1992 gegen den Maastricht-Vertrag." Es ist die erste von mehreren Lobpreisungen ihres Gastgebers: "Ihnen haben wir als Grüne zu verdanken - und auch ehrlich gesagt abgeguckt - , den Menschen gegenüber demütiger zu sein", sagt Baerbock. An anderer Stelle: "Es war gerade die Stärke ihrer Partei, die Welt zu betrachten, wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte."
Doch kaum ein Lob ist Selbstzweck, sondern stets mit einer Warnung oder einer Kritik an den Christdemokraten verknüpft: "Die CDU sollte beim Klimaschutz nicht den Fehler machen, den wir Grünen bei der Deutschen Einheit und bei Europa gemacht haben: im Prinzip dafür, im Konkreten ein bisschen dagegen", zieht Baerbock einen Vergleich zwischen den historischen Scheidewegen der Vergangenheit und Gegenwart. Es sei eine Ironie der Geschichte, dass heute die Grünen begeisterter vom vereinten Europa seien als die frühere Kohl-Partei.
Die angeblich so CDU-typische, realistische Sicht auf die Welt stellt Baerbock infrage, weil die Christdemokraten trotz der vielen Menschen mit Migrationshintergrund noch immer damit hadern, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. Warmen Worten für die weibliche Regierungschefin folgt Kritik am anhaltenden Chauvinismus in der CDU. Ihr Belegzitat "In der Krise wird oft nach dem Vater gefragt" stammt allerdings von einem CSU-Politiker, dem bayerischen Ministerpräsidenten und Baerbocks möglichem Konkurrenten um die Kanzlerschaft, Markus Söder.
Weder Liebesbrief noch Fehdehandschuh
Und dann gibt Baerbock der CDU noch einen Rat mit auf den Weg: Der nächste Unions-Spitzenkandidat solle sich besser kein Beispiel an Ein-Mann-Bewegungen in Österreich und Frankreich nehmen, wobei sie vor allem ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz meint: "Ich bin überzeugt, Agenturen ersetzen keine Parteien und Spitzenpersonal ersetzt keine Mitgliederpartei", sagt Baerbock. Es genüge "ein Blick auf die FDP", um zu sehen, wohin die einseitige Fokussierung auf eine Spitzenpersonalie führe.
Weder schreibt Baerbock dem möglichen Senior-Partner in einer schwarz-grünen Koalition einen Liebesbrief, noch wirft sie dem Konkurrenten um die nächste Regierungsführung - falls es zu Grün-Rot-Rot reichen sollte - den Fehdehandschuh hin. Das Bemerkenswerte: Baerbock tritt der CDU auf Augenhöhe gegenüber. Die Grünen sind nach jetzigem Umfragestand die einzig attraktive Mehrheitsoption im nächsten Bundestag; nicht die schwächelnde FDP, nicht die GroKo-müde SPD. Baerbock unterstreicht die Unterschiede - vor allem in Klima- und Gesellschaftsfragen - ebenso wie das Verbindende: das gemeinsame Verantwortungsgefühl für die demokratische Verfassung und die Zukunftssicherung des Landes.
Schreckensbild USA
Baerbock sagt: "Unsere deutsch-deutsche Geschichte verpflichtet uns dazu, dass wir nie wieder in eine Situation kommen dürfen, dass wir sagen müssen: 'Wählt, als ob unser Leben davon abhängt.'" - wie es Michelle Obama in ihrer Werbung für den US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden in der vergangenen Woche tat. Die USA sind in Baerbocks Rede das Kontrastbild einer aus den Fugen geratenen, akut gefährdeten Demokratie. Baerbock wirbt vor diesem Hintergrund nicht für ein gemeinsames Regierungsprojekt. Sie wirbt dafür, dass Union und Grüne miteinander leidenschaftlich, aber fair und sachlich um politische Inhalte streiten, um "Vertrauen gemeinsam zurückzugewinnen".
Baerbock plädiert dafür, die bei Medien beliebten Fragen zu möglichen Regierungsbündnissen vorerst hintanzustellen. Wenn in den Reihen der Union noch Fragen bestanden, was Baerbock mit ihrem schon vor zwei Jahren ausgerufenen Motto "radikal und staatstragend" meinte: Sie dürften nun beantwortet sein. Baerbock skizziert ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen den nunmehr 40 Jahre alten Grünen und den 75-jährigen Christdemokraten. Darin ist es gleich, ob die beiden Parteien gerade in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen oder im Bund Koalitionspartner sind. Letzteres ist am Ende dieses Abends ein wenig vorstellbarer als vorher.
Quelle: ntv.de
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