Erzwungene Umkehr

  05 September 2020    Gelesen: 765
  Erzwungene Umkehr

Lionel Messi bleibt in Barcelona - doch mit ihm natürlich alle Gründe, aus denen er wegwollte. Wie soll er sich plötzlich wieder für seinen Klub begeistern?

Reisende soll man nicht aufhalten, weiß der Volksmund. Auf den Fußball übersetzt hat das Ronald Koeman vor drei Wochen bei seinem Dienstantritt als Trainer des FC Barcelona: "Ich will nur mit Spielern arbeiten, die hier sein wollen."

Seit Freitagabend hat er gewissermaßen offiziell einen Unwilligen im Kader, und es ist nicht gerade ein Mann der zweiten Reihe. Lionel Messi erklärte in einem Interview mit Goal.com, dass er beim FC Barcelona bleiben wird, aber dies nur aus juristischer Notwendigkeit tut: Weil der Verein seine Kündigung nicht als rechtmäßig akzeptiere, und er also einen Prozess hätte riskieren müssen. Was er nach 20 Jahren Beziehung nicht wolle. "Ich würde nie gegen Barça vor Gericht gehen, es ist der Klub, den ich liebe".

Das klingt gut und emotional. Nicht so gut klingt ein Aspekt, den er unterschlug und nach dem er nicht gefragt wurde: angesichts der Rechtsunsicherheit und der Möglichkeit einer Vertragsstrafe in Höhe seiner Ausstiegsklausel von 700 Millionen Euro wollte ihn zuletzt gar kein Verein mehr verpflichten.

Ein erzwungener U-Turn also, der seinen Groll nur noch verstärkt haben dürfte. Messi glaubt nicht mehr an diesen seinen Herzensverein. Für einen Verbleib habe er immer eine titelfähige Mannschaft gefordert, sagte er: "Aber die Wahrheit ist, dass es hier seit Langem kein Projekt und kein gar nichts mehr gibt, man jongliert nur und stopft Löcher." Von der klubinternen Opposition zu Präsident Josep Maria Bartomeu wurde diese Passage begeistert gefeiert. Konkret bedeutet sie jedoch: Messi wollte auch woanders hin, sicher. In erster Linie aber wollte er einfach weg.

Bei der Umsetzung dieser Absicht haben er und sein Berater-Vater Jorge die Unnachgiebigkeit Bartomeus unterschätzt. Der Präsident ließ die Tür für eine freundliche Einigung über anderthalb Wochen fest geschlossen. Für ihn war die Affäre eine Sache des persönlichen Stolzes. Nachdem er sich in aufeinanderfolgenden Sommern von Neymar an der Nase herumführen ließ (2017), sich von Antonie Griezmann per Videodoku einen Korb einhandelte - das war 2018, ein Jahr später kam der Franzose dann doch - und schließlich vom PSG beim Werben um eine Rückkehr Neymars ins Leere geschickt wurde (2019), geht er jetzt wenigstens formell nicht als der Präsident in die Geschichte ein, unter dem Messi das Weite nahm. Im März finden Wahlen statt, Bartomeus Mandat läuft dann ab, einen möglichen Gratis-Abgang der Klubikone mit Vertragsende im Sommer 2021 wird der Nachfolger managen müssen. Allerdings darf Messi schon ab dem 1. Januar öffentlich und legal anderswo unterschreiben.

Das Thema seiner Zukunft wird, mit anderen Worten, weiter für mächtige Nebengeräusche sorgen. Das Verhältnis zu Bartomeu ist irreparabel zerstört, Messi bezichtigte den Klubboss gar des Wortbruchs: Er habe ihm gegenüber mehrfach seine Abwanderungsgedanken geäußert und sei diesbezüglich immer auf das Saisonende vertröstet worden - an dem Bartomeu dann plötzlich inflexibel auf den Wortlaut des Vertrags verwiesen habe, der Messi eine Ausstiegsklausel nur bis zum 10. Juni einräumte. "Am 10. Juni spielten wir noch um die Liga mitten während dieses Scheiss-Virus", beklagt sich Messi demgegenüber. Ob er Bartomeu wirklich schon vorher seine Absichten mitteilte, wird wohl für immer Geheimnis der Beteiligten bleiben. Tendenz unter Barcelonas Fans: Sie glauben keinem von beiden mehr. In Umfragen auf Onlineseiten bewerteten am Freitagabend klare Mehrheiten den Verbleib ihres einstigen Lieblings Messis nicht als gute Lösung für den Verein.

Semi-offizielle Kommentatoren klammern sich derweil an das Prinzip Hoffnung. "Es handelt sich um eine Scheidung zwischen einem Spieler und einem Präsidenten" erklärte der ehemalige Vizepräsident und Bartomeu-Intimus Jordi Mestre; doch auf dem Platz werde man Messi so ambitioniert wie immer sehen. Oppositionskandidat Víctor Font rief Messi gar dazu auf, "zusammen ein neues Barça aufzubauen", als sei der Argentinier nicht bereits 33 Jahre alt. Und die klubnahe Zeitung "Sport" äußerte die Erleichterung darüber, dass "der größte Spieler der Vereinsgeschichte nicht mit einem 2:8 geht, sondern vielleicht doch noch durch die Vordertür".

Offizielle Statements des Vereins gab es dagegen vorerst nicht. Barça beginnt die Liga wegen seiner Beanspruchung in der Champions League erst Ende September, zwei Wochen nach dem Saisonstart. Inoffiziell heißt es, man werde Messi für den boykottierten Covid-Test und die geschwänzten Trainingseinheiten der vergangenen Woche nicht belangen - es wäre gleich die erste Ausnahme der von Koeman angeblich gegenüber Messi verkündeten Maxime: "Die Zeit der Privilegien ist vorbei."

Sensibilität gilt nicht unbedingt als Stärke des niederländischen Coaches, und für harte Maßnahmen ist er auch geholt worden. Jetzt steht er vor einem Drahtseilakt zwischen Prinzipientreue und Diplomatie. Wie es heißt, habe er für die Zeit nach Messi schon Gerard Piqué als neuen Kapitän auserkoren - der einzige Profi, der nach dem 2:8-Desaster überhaupt Rede und Antwort stand. Wird er auch jetzt Spielführer, wo Messi bleibt? Gibt es womöglich noch eine Chance für Messis Busenkumpel Luis Suárez, den Koeman eigentlich aussortiert hat? Das wird an Suárez möglichem Transferziel Italien spekuliert, gewissermaßen als Appeasement-Maßnahme für den Weltfußballer. Und wie sieht jetzt die Zukunft von Antoine Griezmann aus, der mit Messi nie harmonierte, von Koeman aber eine wichtige Rolle versprochen bekommen haben soll?

Das sind nur einige Fragen nach dem vorläufigen Ende einer Seifenoper. Lionel Messi mag man dabei vieles vorwerfen, aber nicht, dass er dem Umbruch im Weg stehen wollte. "Junge Leute, neue Leute" bräuchte das Team, sagte er in seinem Interview, auch deshalb habe er "einen Schritt beiseite machen" wollen. Der FC Barcelona hat diesen Schritt nicht in Betracht gezogen. Die Zukunft ist mal wieder verschoben.

spiegel


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