"Gebt nie die Hoffnung auf", so lehrte der Rabbiner Nachman einst seine Schüler. Es ist eine Lehre, an die sich derzeit mehr als tausend ultraorthodoxe Juden aus Israel im Niemandsland zwischen Belarus und der Ukraine klammern. Ihre Pilgerfahrt an Nachmans Grab hat Corona-bedingt im Grenzgebiet der beiden Staaten geendet - und ist zum Streitfall zwischen Minsk und Kiew geworden.
Die belarussische Führung "heize Gerüchte an", wonach die Grenze den Pilgern offenstehe, beschwerte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag. Man erinnere die Nachbarn deshalb daran, dass die Ukraine wegen der Corona-Pandemie ihre Grenzen für sämtliche Besucher gesperrt habe. Umgekehrt hieß es aus Minsk: Kiew möge einen "grünen Korridor" für die Pilger schaffen.
Dass eine Pilgerfahrt das Potenzial hat, das ohnehin angeschlagene Verhältnis der beiden Länder zu belasten, sagt viel über Rabbiner Nachmans Nachwirken aus. Kaum ein Ort außerhalb Israels hat eine so magnetische Wirkung wie sein Grab in der Kleinstadt Uman in der Zentralukraine.
Jeden Herbst pilgern Zehntausende ultraorthodoxe Juden aus aller Welt dorthin, um das jüdische Neujahrsfest Rosch-Haschanah zu feiern, das an diesem Freitag beginnt. Charterflugzeuge aus Israel landen in schneller Folge in Kiew und Odessa, den nächstgelegenen Flughäfen.
Am Ort werden die - fast ausschließlich männlichen - Pilger in großen Zelten koscher verköstigt. Ein ganzer Stadtteil wird für Nichtjuden gesperrt, solange die Feierlichkeiten anhalten. Das Ganze wirkt von außen betrachtet wie eine gewaltige Loveparade für ultraorthodoxe Juden, inklusive lauter Musik-Beschallung.
Dass die Feier dieses Jahr kleiner ausfallen würde, das war schon im August klar. Die Ukraine hatte schon im Frühjahr mit strengen Einschränkungen versucht, die Pandemie einzuhegen - selbst die Feier des Osterfests in Kirchen musste abgesagt werden. Im Falle der Pilgerschaft an Nachmans Grab kam hinzu: Die ultraorthodoxen jüdischen Gemeinden gelten - auch in Israel - als lax im Umgang mit Corona-Regeln.
Ende August traf sich Selenskyj mit führenden Rabbinern des Landes, um das Problem anzusprechen. Eine Massenfeier werde "einen Kollaps in der Ukraine, und nach ihr auch in anderen Ländern" bewirken, warnte er. Er wisse sich mit Israels Premier Benjamin Netanyahu einig, dass die Anreise zur Feier einzuschränken sei.
Einen Tag darauf verkündete die Regierung eine verblüffend radikale Maßnahme: Eine einmonatige Einreisesperre. Das jüdische Neujahrsfest in Uman wurde dabei gar nicht erwähnt. Begründet wurde der Einreisestopp allgemein, mit der wieder gestiegenen Zahl an Infektionen. Und er trifft nicht nur Ultraorthodoxe aus Israel, sondern sämtliche Ausländer. Aber es gilt in Kiew als offenes Geheimnis, dass es der Regierung vor allem darum ging, das Infektionsrisiko durch Nachman-Pilger zu minimieren und zugleich den Anschein der Diskriminierung zu vermeiden.
Innenminister Arsen Awakow erwartet statt der üblichen 30.000 bis 40.000 Besucher des Neujahrsfests in Uman in diesem Jahr nur 3000 - darunter Pilger, die noch vor dem Einreisestopp einreisen konnten. Die üblichen Charterflüge in die Ukraine fielen diesmal aus.
Hartnäckige Pilger versuchten eben deshalb den Umweg über Belarus - und hofften, per Ausnahmeregelung doch noch ins Land gelassen zu werden. Selenskyj lehnt das ab. Er wirft Lukaschenko in seiner jüngsten Erklärung implizit vor, die Pilgerkrise selbst befördert zu haben und so "persönlichen Groll auf die Ebene internationaler Beziehungen" zu heben.
Belarus steckt nämlich gerade in einer politischen Krise, Lukaschenko hat mit nach einer manipulierten Präsidentenwahl mit Bürgerprotesten zu kämpfen. Jetzt rächt er sich - so jedenfalls Selenskyjs Unterstellung - an Kiew für dessen Eintreten für Demokratie, in dem er für Probleme an der Grenze sorgt.
Laut belarussischer Grenzpolizei haben von Montag bis Donnerstag allein 1216 ultraorthodoxe Juden aus Israel den belarussischen Grenzübergang Nowaja Guta überquert. Die Ukraine hat ihre Seite des Übergangs völlig geschlossen, die Bewachung verstärkt.
Zwar habe Präsident Selenskyj recht mit seiner Haltung, sagt der Kiewer Rabbiner Mosche Asman dem SPIEGEL. "Aber manchmal ist es besser, weise zu sein als recht zu haben." Er plädiere für einen Kompromiss. Sie hereinzulassen, werde keine Nachahmer anlocken, dafür sei die Zeit bis zum Beginn des Neujahrsfestes am Freitagabend zu kurz.
Um für ihre Einreise zu werben, haben die Ultraorthodoxen im Grenzgebiet dieser Tage zu einem ungewöhnlichen Mittel gegriffen. In farbenfrohe ukrainische Volkstrachten gekleidet, haben sie die Nationalhymne der Ukraine gesungen. Am Ende riefen sie: "Ruhm der Ukraine!"
spiegel
Tags: