“Man sieht die Flüchtlinge durch den Zaun kriechen“

  09 März 2016    Gelesen: 683
“Man sieht die Flüchtlinge durch den Zaun kriechen“
Nach mächtigen Gewittern versinkt das Flüchtlingslager Idomeni im Schlamm. Immer noch kommen weitere Menschen. Wer eine Wartenummer hat, kann irgendwann weiterreisen. Doch die Geduld schwindet.
Man riecht und sieht es von Weitem, dichter Rauch aus Hunderten von Lagerfeuern. Das improvisierte Flüchtlingslager in Idomeni an der mazedonischen Grenze ist an diesem Morgen bis in die Seele nass, irgendwie versuchen die Menschen, Socken und Schuhe zu trocknen an Feuern, die vor fast jedem der vielen kleinen Zelte glimmen. Oft auch lodern und rußig rauchen, denn damit es höher brennt, werfen kleine Kinder Plastiktüten in die Flammen. Müll liegt genug herum.

In der Nacht ist ein Wolkenbruch niedergegangen, das Lager der Hoffenden versinkt im Schlamm. Ein Junge stochert mit einer Zeltstange im Boden, versucht, einen kleinen Graben rund um das Zelt seiner Familie zu ziehen. "Damit das Wasser nicht ins Zelt fließt", erklärt seine Mutter. Mit ihrem Mann, seiner Zweitfrau und vier Kindern sind sie da, aus Ramadi in der irakischen Sunniten-Provinz Anbar.

Weiter hinten lagert eine ganze Sippe im Matsch, 40 Seelen, davon 19 teilweise sehr kleine Kinder. "Aleppo", sagt eine Frau auf die Frage, woher sie kommen. Vielleicht sagt sie es nur in der Annahme, dass eine Herkunft aus der syrischen Märtyrerstadt immer gut ankommt, denn ihr Mann, Reber Nasan, berichtigt sie: "Wir sind Kurden, aus Afrin." Eine zwischen der feindseligen Türkei und der nie weit entfernten Front eingeklemmte kurdische Enklave im Nordwesten Syriens.

Warteliste für Ziel Deutschland

Seit zehn Tagen sind sie hier, erzählt die Frau. Wie lange wohl noch? "Gestern waren wir Nummer 20, heute Nummer 18", sagt sie. "Zwei Plätze vorgerückt."

In diesen Nummern liegt für sie alle Hoffnung der Welt. Es ist der Platz der Gruppe auf der Warteliste für eine Einreise nach Mazedonien. Von dort ginge es direkt weiter, ohne Zwischenstopp nach Österreich, dann nach Deutschland. Egal wo dort, "wir kennen da niemanden". Sie seien vor dem Krieg geflohen, nicht um in eine besondere Wunschstadt zu kommen. Aber Deutschland soll es schon sein.

Wer eine solche Wartenummer hat, der weiß, dass es irgendwann weitergeht. Der Frieden im Lager hängt zu einem guten Teil davon ab, wie viele Flüchtlinge solche Nummern der Hoffnung haben. Es sind bei Weitem nicht alle.

Mohammed Dschalal, Kurde aus Kirkuk im Nordirak, weiß nicht, wie es für ihn weitergehen soll. Er ist zwar Iraker, und als Iraker darf man prinzipiell weiter. Nach Deutschland will er wie fast alle hier. "Aber sie sagen mir, Kirkuk ist sicher", erzählt er. Die kurdische Peschmerga-Miliz kontrolliert diesen Teil des Landes. Für die Behörden in Idomeni bedeutet das offenbar: Es bestand kein ausreichender Grund, von dort zu fliehen.

Unter den Gestrandeten wächst die Wut

Andere Männer scharen sich um Mohammed, auch aus dem kurdischen Nordirak, auch – nach eigenen Angaben – ohne Chance. Andere wieder sind aus Bagdad oder Damaskus. Auch sie berichten, dass man ihnen sagt: Dort ist kein Krieg. Ihr dürft nicht weiter.

Und so wächst die Spannung. Im ewigen Gedrängel vor dem Grenztor am Stacheldraht, den hier überall trocknende Wäsche schmückt, sagt Mohammed: "Die Männer sind sehr wütend. Sie werden vielleicht bald wieder versuchen, mit Gewalt durchzubrechen."

Wie am 29. Februar. Da hatten sich Hunderte Migranten und Flüchtlinge eine regelrechte Schlacht mit den mazedonischen Grenzern geliefert. Steine und Stöcke gegen Tränengas und Gummiknüppel.

Ein junger Mann, der angibt, aus Aleppo zu kommen, steht seit Stunden an, um seine Papiere prüfen zu lassen. Das ist die erste Station, wenn man eine Chance haben will, auf die andere Seite zu kommen. Englisch hat er studiert, aber wegen des Krieges abgebrochen. Seinen Namen will er nicht sagen. "Es ist unerträglich", meint er. "Alle sind verzweifelt. Bald werden wir Demonstrationen machen."

Auf der mazedonischen Seite des Grenzzauns wird derweil aufgerüstet. Gepanzerte Truppentransporter mit aufgesetztem Maschinengewehr stehen in regelmäßigen Abständen an der Grenzsperre, Soldaten patrouillieren.

Taser gegen Zaun-Durchbrecher

"Shooting", ruft einer auf die Frage des Reporters, was sie denn machen würden, wenn es zu einem Massendurchbruch käme. Sein Offizier weist ihn zurecht. "Nein, nur zurückdrängen."

Der Drahtverhau, mit ungarischer Hilfe errichtet und gegenwärtig 30 Kilometer lang, soll bald auf die gesamte Länge der Grenze zu Griechenland ausgeweitet werden – rund 200 Kilometer. Die Grenzer sollen mit Tasern ausgerüstet werden, um im Ernstfall nicht gleich schießen zu müssen. Gegenwärtig sind außer der Polizei und der Armee auch Polizisten der Visegrád-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei) im Einsatz. Die Tschechen etwa haben derzeit 27 Polizisten und Polizistinnen vor Ort, darunter zwei Hundeführer.

"Wir konstatieren deutlich mehr Zaundurchbrüche, seit die Grenze geschlossen ist", sagt ein Offizier, der seinen Namen nicht nennen will, weil er nicht autorisiert ist, mit der Presse zu sprechen.

Immer öfter, so sagt der Offizier, "finden wir frische Löcher im Zaun". Teilweise seien es recht große Gruppen von Migranten – "bis zu 100 oder mehr, meistens aber kleinere Gruppen, rund zehn Personen" –, die sich durch den Draht schneiden. Die würden dann, wenn man sie denn erwischt, erkennungsdienstlich behandelt und zurück nach Griechenland befördert.

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Doch manche kommen durch. Im kleinen Grenzdorf Bogoroditsa macht sich Todor Uzuntschew, von Beruf Lastwagenfahrer, einen Spaß daraus, nach Anbruch der Dunkelheit das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Migranten und Grenzern mit seinem Nachtsichtgerät zu verfolgen. Sein Haus steht auf einem Hügel mit guter Sicht auf den Grenzzaun. "Die Polizei macht das gut", meint er. "Man sieht die Flüchtlinge durchkriechen, und bald darauf sind meist schon die Grenzer da und fangen sie."

Aber einige schaffen es doch. "Ich habe selbst welche gesehen, in den Feldern, in den Gärten der Häuser", sagt Angel Tschewdarow, ein anderer Dorfbewohner.

Aber immerhin, so sagen die Leute beim Plausch in der Abenddämmerung vor dem örtlichen Krämerladen, sei es "nicht mehr so schlimm wie im Sommer". Da seien die Flüchtlinge einfach überall gewesen, wären in leere Häuser eingebrochen, hätten an die Türen geklopft und nach Essen und Trinken gebeten.

Die geschlossene Grenze – den Menschen hier zumindest ist sie willkommen.

Quelle : welt.de

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