Als die Brexit-Gespräche zwischen Europäischer Union und dem Vereinigten Königreich vor drei Jahren begannen, twitterte ein Mitarbeiter von EU-Verhandlungsführer Michel Barnier ein Foto. Zu sehen waren der Franzose und seine Vertrauten, die jeweils einen Stapel Akten vor sich liegen hatten, und das Trio um seinen Counterpart David Davis, der nur ein dünnes Notizbuch dabei hatte. Es wurde zum Symbol für den überheblichen Herangang der Politiker von der Insel, die die Komplexität der Verhandlungen entweder unterschätzten oder nicht begriffen. Vielleicht war es auch ein Mix aus beidem.
Im Frühsommer 2018 schmiss erst Brexit-means-Brexit-Premierministerin Theresa May hin, bald folgte ihr Brexit-means-Brexit-Unterhändler Davis. Das Kommando übernahm Boris Johnson. Auf britischer Seite blieben: Hybris, Planlosigkeit, Blauäugigkeit und Dilettantismus. Die Annahme, dass sich die anderen EU-Staaten in den Verhandlungen auseinander dividieren lassen würden, war erst der große Irrtum von May, dann der ihres Nachfolgers. Johnson fiel vor allem mit leeren, schrillen oder unverschämten Drohungen auf, die dazu beitrugen, dass das Klima vergiftet und Firsten gerissen wurden.
Die auf zwei Jahre festgelegte Verhandlungsphase wurde 2019 nach offizieller Zählung dreimal verlängert, immer mit der Betonung, das sei nun aber der wirklich allerletzte Aufschub. Der Premierminister äußerte einmal sogar die Sorge, „zum Vasallenstaat der EU" zu werden, wenn er unterschreibe, was Brüssel ihm anbiete. Vasallenstaat? Dass Johnson Großbritannien so wenig zutraute, klang nicht gerade nach stolzer Nation, sondern nach einem Land der Minderwertigkeitsgefühle. Sein Auftreten und seine Forderungen vermittelten zugleich den Eindruck, als wähne er sich an der Spitze einer Weltmacht.
Nach der x-ten Fristverlängerung auch in diesem Jahr kommt es nun wieder zu Nach-nach-nach-Verhandlungen. Jetzt geht es nicht um die Wurst, sondern den Fisch. Barnier rief mal wieder „die Stunde der Wahrheit" aus, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bemüht einmal mehr den Begriff der „großen Herausforderung". Dabei halten die Briten die Staatengemeinschaft, die – unabhängig von der Corona-Pandemie – wahrlich andere Probleme zu lösen hat, seit fast vier Jahren auf Trab. Und das, obwohl das Land schon seit einem Jahr kein EU-Mitglied mehr ist.
Dann hätte das restliche Europa Pech gehabt
Johnson hatte immer wieder gesagt, kein Abkommen zu benötigen, er erfand dafür die Verschleierungsformel der "australischen Lösung". Dann gibt es eben die harte Bauchlandung – und zwar für alle. Es ist ja nicht so, dass plötzlich 90 Prozent der Inselbewohner den Wert der EU erkannt hätten. Die Gemeinschaft ist und bleibt verhasst auf der Insel, zumindest im englischen Teil. Johnson hat die mit dem Scheitern der Verhandlungen verbundenen Gefahren stets runtergespielt oder ignoriert und auf die Chancen des Brexits gesetzt. Der drohende Zerfall des Königreichs nach einer Abspaltung Schottlands und ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs in Nordirland waren für ihn maximal zweitrangig.
Vielleicht hat der Premierminister mit allem Recht, tut das absolut Richtige und macht aus Großbritannien die Insel der Glückseligen, auf der die Wirtschaft blüht, die Arbeitslosigkeit minimal ist, Wohlstand und Pensionen sicher sowie das Gesundheitssystem internationale Spitze sind und die Staatseinnahmen brummen. Make Great Britain great again! Es sei dem Königreich gegönnt.
Dann hätte das restliche Europa Pech gehabt. Dann muss es der Kontinent nicht nur in Kauf nehmen, nicht mehr in britischen Gewässern fischen zu dürfen, sondern auch, dass weitere Staaten dem Beispiel folgen könnten und die EU verlassen. Dann hätten die EU-Regierungen früher aufwachen und gegen die Europa-Verdrossenheit von Millionen Menschen nicht nur in Großbritannien angehen müssen. Schon der als Verhandlung getarnte ewige Streit zwischen EU und Großbritannien hat die Gemeinschaft keinesfalls sympathischer gemacht.
Immerhin bekämen wir Klarheit: Entweder müssen die Brexit-Kritiker eines Tages den Hut vor den Briten ziehen und sagen: Toll und richtig gemacht! Oder allen wird klarer denn je: Die EU ist eine tolle Einrichtung, der jeder einzelne Mitgliedsstaat helfen sollte, sich zu reformieren, statt auszutreten. Das endlose Verhandeln aber, das der Normalbürger nicht mehr verstehen und nachvollziehen kann, muss ein Ende haben. Keine Kompromisse mehr, die gar darauf hinauslaufen, dieses Detail oder jene Fangquote noch bis zum Jahr 2050 zu vereinbaren.
Die Zeit für faule Kompromisse muss ein Ende haben. Nach Ansage von Johnson sollte die EU "Vernunft annehmen und selbst mit etwas an den Tisch kommen". Die EU muss gar nichts. Und die Briten müssen ihren Cheddar dann selber essen. Sie haben den Bruch gewollt, jetzt sollen ihr Ding endlich alleine machen.
n-tv
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