Es ist nunmehr ein Jahr her, dass sich der erste Mensch in Deutschland nachweislich mit dem Erreger Sars-CoV-2 angesteckt hat. Die zunächst abstrakte Bedrohung aus Fernost stellt seitdem das Leben in der Bundesrepublik auf den Kopf. Jetzt, im Januar 2021, haben die meisten Menschen gelernt, mit der allgegenwärtigen Bedrohung irgendwie umzugehen. Doch noch immer gibt es nicht nur regelmäßig neue Erkenntnisse über den Erreger, neue Varianten, die auftreten, und Fallzahlen, die steigen. Noch immer - so muss der Eindruck auch nach der abermaligen Themen-Sendung bei Anne Will sein - gibt es keine richtige Handhabe, wie diese Pandemie nachhaltig in den Griff zu bekommen ist.
Rund siebeneinhalb Stunden berieten am Dienstag Vertreter der Bundesregierung mit den Länderchefs über das weitere Vorgehen im nunmehr zweiten Lockdown. Das, was nach dem digitalen Gipfel als Verlängerung und auch teilweise Verschärfung der bisherigen Maßnahmen verkauft wurde, geht nicht allen weit genug. Mehrere Wissenschaftler fordern, eine "No-Covid"-Strategie umzusetzen und nicht - wie bisher - das Ziel auszugeben, auf eine Sieben-Tage-Inzidenz von unter 50 zu kommen.
Aus dieser Gemengelage heraus entwickelt sich am Sonntagabend eine kontroverse Debatte. Klar in der Defensive befinden sich dabei die politischen Entscheidungsträger selbst: verkörpert durch die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, und Kanzleramtschef Helge Braun. Letzterer ist sich sicher: Die britische Mutante, die zumindest deutlich ansteckender, wenn nicht gar tödlicher als die ursprüngliche Coronavirus-Form ist, ist in Deutschland inzwischen angekommen. Das bedeutet, so Braun, dass sie sich auch hierzulande gegenüber anderen Varianten durchsetzen und Probleme machen wird. "Da bin ich mir sehr sicher." Deswegen müsse nun Kurs gehalten werden, damit die Fallzahlen nach unten gehen. Dann sei sowohl die Mutante als auch die "Stammvariante" besser kontrollierbar.
Deutschland ist gut durch die Pandemie gekommen - oder nicht?
Länderchefin Dreyer macht deutlich, dass sie an dem Ziel festhält, möglichst weit - also mindestens unter 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen - zu kommen. Aber: Eine Null-Covid-Strategie, wie sie etwa im australischen Melbourne erfolgreich war, lasse sich in Europa nicht eins zu eins umsetzen. Dafür seien die verschiedenen Länder des Kontinents zu sehr miteinander verflochten. "Jetzt den Menschen zu vermitteln, dass wir bis zu null (Neuinfektionen) kommen müssen, ist, glaube ich, im Moment keine gute Idee." Bei einem so ehrgeizigen Ziel könne sie sich nicht vorstellen, dass die Bevölkerung mitgehe. Dass es gewisse Stufen geben müsse, die die Öffnung von einzelnen Bereichen (etwa Schulen und Friseuren) beinhalten, befürwortet die SPD-Politikerin. Sie spricht in diesem Zusammenhang aber eher über Inzidenz-Größenordnungen von 20 und 35.
Auch Michael Hüther hält das Ziel von null Infektionen - gerade im Winter - für unrealistisch. Es drohe sonst eine Abschottung zwischen vermeintlich coronafreien Zonen und anderen Gebieten, was nicht praktikabel wäre und Wertschöpfungs- und Innovationsketten gefährde, sagt der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln. Die Journalistin Vanessa Vu widerspricht. Länder wie Australien, Taiwan und Südkorea zeigten, dass es gelingen könne, dass sich Menschen vorübergehend auf lokaler Ebene einschränken und es dank gemeinsamer Anstrengungen schaffen, die Ansteckungen dauerhaft auf ein Niveau nahe Null zu bringen. Sich auf derzeitigen Erfolgen und auf einer Inzidenz von über 100 auszuruhen, gleiche einer "Kapitulation vor dem Virus", sagt die Redakteurin von "Zeit Online". Und außerdem gebe es die Tendenz: "Je besser man dieses Virus in den Griff bekommt, desto besser geht es der Wirtschaft, desto weniger Einbußen gibt es."
Dass gegenwärtig eine Langfrist-Strategie im Kampf gegen die Pandemie fehlt, es also von einer Verlängerung des Lockdowns zur nächsten geht, setzt auch Intensivmediziner Uwe Janssens zu. Sein Urteil fällt einigermaßen vernichtend aus. Im Gegensatz zu Dreyer vertritt er die Ansicht, dass Deutschland bislang eben nicht gut durch die Pandemie gekommen ist. Verhältnisse wie in Bergamo habe es zwar nicht gegeben, auch wenn eine Zeit lang mehr als 5000 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt werden mussten, aber das liege allein an dem "fantastischen Gesundheitssystem" hierzulande. Das Personal, das sich in den Krankenhäusern um die Betroffenen kümmert, sei aber inzwischen am Ende. Da könnten auch die viele Intensivbetten nichts ausrichten.
Janssens äußert die Angst, dass zu schnelle Lockerungen und ein Flickenteppich an Maßnahmen (von 16 Ärzten beziehungsweise Bundesländern und "Chefärztin Angela Merkel") für einen starken Anstieg der Fallzahlen und damit eine Überlastung sorgen werden. "Wir müssen mit den Infektionszahlen runter. Denn je mehr Leute infiziert sind, desto höher ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Mutationen entwickeln", so Janssens. Oder die Mutationen, die ansteckender sind, in die Bevölkerung gelangen. Dann komme es zu der befürchteten dritten Welle.
"Wir wissen nicht so viel, wie wir wissen könnten"
Wahrhaftiger Frust angesichts des politischen Krisenmanagements bricht sich dann in der zweiten Hälfte der Sendung Bahn - auch bei Moderatorin Anne Will. Doch der Reihe nach. Kanzleramtschef Braun wiederholt, was er an anderer Stelle schon einmal hat anklingen lassen. Er hätte sich gewünscht, "dass wir früher einen energischen Lockdown machen". Und weiter: "Hätten wir die Maßnahmen, die wir jetzt machen, Mitte Oktober gemacht, hätten wir sicherlich viele Todesfälle vermeiden können."
Es ist dieses eine Wort, "wünschen", dass Moderatorin Will in den Attackemodus umschalten lässt. Wieso kann sich das Kanzleramt nicht durchsetzen, sondern äußert gegenüber den Ministerpräsidenten lediglich Wünsche? Mit falschen politischen Entscheidungen werde Menschen das Leben genommen. Braun geht auf den Vorwurf nicht ein, sondern will lieber nach vorne, auf die nächste Herausforderung namens B.1.1.7 blicken. Doch damit ist das Wortgefecht über politische Unzulänglichkeiten noch nicht beendet.
Denn Wirtschaftsvertreter Hüther merkt einen anderen schmerzlichen Punkt an: Bei einem Großteil der Infektionen (80 Prozent) ist derzeit nicht nachvollziehbar, wo sie herkommen. Die Gesundheitsämter schaffen es nicht, die Infektionsketten nachzuverfolgen und auch viele Betroffene können offenbar zu oft nur mutmaßen, wo sie sich das Virus eingefangen haben. Es fehlt an empirischen Erhebungen, ob sich die Menschen am Arbeitsplatz, auf dem Weg dorthin oder womöglich durch ihre Kinder, die zur Schule gehen, anstecken. "Wir wissen nicht so viel, wie wir wissen könnten, um differenzierter zu agieren", prangert Hüther an.
Warum das so sei, hakt Will bei Braun nach. Der CDU-Politiker erklärt, dass die Gesundheitsämter zwar schon seit April 2020 angehalten sind, die "Ansteckungsumstände" zu ermitteln und an das Robert-Koch-Institut zu melden ... Noch bevor er seinen Punkt jedoch beenden kann, entfährt der Moderatorin der Satz: "Aber das ist echt frustrierend, Herr Braun." Der rechtfertigt sich weiter. Durch die Situation im November, als die Zahlen wieder sehr hoch waren, sodass die Gesundheitsämter nicht mehr jeden einzelnen Fall "so liebevoll nachvollziehen konnten", bleibe eben ein Großteil des Infektionsgeschehens "diffus". "Das ist sehr, sehr ärgerlich." Kein Satz kann die Gegenwart wohl besser zusammenfassen.
Quelle: ntv.de
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