Nach drei Geständnissen fällt das Urteil

  28 Januar 2021    Gelesen: 521
Nach drei Geständnissen fällt das Urteil

Im Sommer 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet. Es ist der erste rechtsextreme Mord an einem Politiker in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Nun wird das Urteil gesprochen.

Zwanzig Monate nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wird an diesem Donnerstag das Strafmaß vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt verkündet. Nicht nur in Deutschland wird das Urteil mit Spannung erwartet.

Die Frage ist: Wird Stephan Ernst, der Hauptverdächtige, wegen Mordes verurteilt? Und wird auch die besondere Schwere der Schuld festgestellt, vielleicht sogar Sicherungsverwahrung angeordnet? Welche Strafe bekommt Marcus H.? Wird er als Mittäter oder als Mitwisser verurteilt? Sicher ist: Wenn das Urteil verkündet wird, dann werden die Akten eines der spektakulärsten Staatsschutzverfahren nach 45 Verhandlungstagen erst einmal geschlossen. Zeit also, noch einmal auf den Prozess und auf herausragende Akteure zurückzublicken.

Der Richter: Fangen wir mit dem an, der den Prozess dirigierte und choreografierte, dem Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiehl. Ein Mann, geschult im Umgang mit gewichtigen Verfahren. Er verurteilte Völkermörder, Terroristen und jede Art von Gewaltverbrechern, ist also ein Profi. Langjährige Prozessbeobachter und Beteiligte bescheinigen dem 64-Jährigen ein souveränes Geschick. "Selbst wenn wir nicht immer einer Meinung waren, aber er ist zweifellos ein guter Vorsitzender", sagt der Verteidiger von Stephan Ernst, Mustafa Kaplan, in einem exklusiven Interview mit ntv und RTL. Das bewies Sagebiehl auch in diesem Verfahren. 90.000 Seiten umfasste die Anklageschrift, drei unterschiedliche und sich teilweise widersprechende Geständnisse des Angeklagten mussten analysiert und bewertet werden. Verteidiger musste Sagebiehl ermahnen oder sie wurden ausgetauscht. Zwischendurch wurde das Verfahren auch corona-bedingt ausgesetzt. Doch Sagebiehl blieb unbeirrt. Nur selten schoss er übers Ziel hinaus, wenn er zum Beispiel den Angeklagten ins Gewissen rief: "Glauben Sie mir. Glauben Sie nicht Ihren Anwälten." Ein Spruch, der das Klient-Anwalt-Vertrauensverhältnis durchaus strapazieren kann. Wie auch immer sein Urteil ausfallen wird, es dürfte sein letztes sein. Danach wird sich der 64-Jährige vermutlich einer anderen Leidenschaft widmen: dem Kochen.

Die Verteidiger: Es war eine bemerkenswerte Mischung, die dort am Frankfurter Oberlandesgericht aufmarschierte. Die Palette reichte von rechten Szeneanwälten über Pegida-nahe Verteidiger bis hin zu erfahrenen Anwälte und prozessualen Hochkarätern. Wie erwartet starteten sie mit einer Flut von Anträgen. Mit Blick auf die Pandemie forderten einige, der Prozess müsse ausgesetzt werden. Dann hielt jemand den Richter für befangen, eine Anwältin forderte mehr Zeit zum Aktenstudium und natürlich gab es auch die Forderung, das Verfahren müsse eigentlich eingestellt werden. Prozessualer Alltag also. Doch es sollte noch erstaunlicher werden. Der Hauptangeklagte Ernst hatte die Tat bereits gestanden und dabei viel Täterwissen offenbart, zum Beispiel, wo die Tatwaffe vergraben war. Doch sein Anwalt Frank Hannig aus Dresden präsentierte zum Erstaunen aller Beteiligten plötzlich einen völlig neuen Tathergang und zerrte den Mitangeklagte Marcus H. als Todesschützen ins Rampenlicht. Unglaubwürdig, absurd und frei erfunden, so die einhellige Meinung. Ein Manöver, dass vermutlich "noch ein gerichtliches Nachspiel haben könnte", so Strafverteidiger Mustafa Kaplan.

Im Laufe des Verfahrens brachte der sogenannte Pegida-Anwalt Hannig - er war bei einer Pegida-Veranstaltung als Redner aufgetreten - immer öfter fragwürdige Anträge vor, so dass dem Vorsitzenden Richter irgendwann der Kragen platzte und er Hannig attestierte, das sei alles "handwerklicher Unsinn". Am Ende gab es kein Vertrauensverhältnis mehr und auch Ernst wollte nicht mehr von Hannig vertreten werden. Hannig ging, Kaplan kam. Da der gebürtige Türke selbst von Rechtsextremisten bedroht wurde und nun einen von ihnen vertrat, löste der Vorgang durchaus Erstaunen aus. Aber der Hobbyboxer ist einer, der in großen Prozessen viel Erfahrung hat und auszuteilen und einzustecken vermag. So vertrat er schon den türkischen Präsidenten Erdogan im Verfahren gegen Jan Böhmermann oder war Opferanwalt im NSU-Verfahren gegen Beate Zschäpe.

Stephan Ernst und Markus H.: Der Hauptangeklagte Stephan Ernst steht wegen Mordes vor Gericht, er ist ein Rechtsextremer durch und durch. 1973 in Wiesbaden geboren, beschreibt er seine Kindheit als "Hölle aus Gewalt, Jähzorn und Einsamkeit". Vor allem das Verhältnis zu seinem oft betrunkenen und angeblich ausländerfeindlichen Vater skizzierte er als extrem schwierig. Sein Strafverteidiger Kaplan glaubt ihm. "Es muss eine extrem schwierige Zeit für ihn gewesen sein", so der Kölner. In dem Verhörvideo, welches nur wenige Tage nach der Tat aufgezeichnet wurde, ist ein Mann zu sehen, der den Kopf gesenkt hält, unsicher wirkt, mal den Tränen nahe zu sein scheint, dann wieder sachlich wirkt. Sein Gutachter Norbert Leygraf, kam zu dem Schluss, insgesamt sei Ernst "wenig emotional, nach außen unbeteiligt, aber nach innen leicht kränkbar". Er neige außerdem zu spontanen Gewaltausbrüchen. Das Besondere aber sei, so Leygraf, dass Ernst selbst Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen habe, die ausländische Wurzeln hätten. Das passe nun gar nicht zu seiner rechtsextremen Ideologie. Auch Ernst kann es nicht erklären. "Aber er bereut die Tat zutiefst und ich glaube ihm", sagt sein Verteidiger.

Mit ihm auf der Anklagebank sitzt Markus H., einer seiner frühen Freunde. Er ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Als sicher gilt seine extreme rechte Gesinnung. Seit 25 Jahren ist er Teil der rechtsextremen Kasseler Szene. Seine ehemalige Freundin, Mutter einer gemeinsamen drei Jahre alten Tochter, beschreibt ihn als "Einzelgänger und Narzisst". Er sei ein Rechtsextremist mit einer Affinität zu Waffen und versuche alle in seinem Umfeld zu manipulieren. Ihre Aussage deckt sich mit den Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft. H. habe Ernst zur Tat vermutlich angestachelt, er habe die Tat mit ihm gemeinsam geplant und H. habe genau gewusst, was Ernst vorhabe. Aber man habe keine Beweise gefunden, dass er in der Tatnacht auch mit am Haus der Familie Lübcke war. Nur die DNA von Stephan Ernst habe man gefunden. Was aber nicht bedeutet, dass Markus H. nicht trotzdem auch am Tatort war. Nur beweisen lässt es sich eben nicht. Sein Verteidiger forderte am Dienstag in seinem Schlussvortrag einen Freispruch.

Die Bundesanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyer eine lebenslange Haft für Ernst gefordert, sie will auch die besondere Schwere der Schuld feststellen lassen und plädiert für anschließende Sicherungsverwahrung. Für H. forderte die Anklage neun Jahre und acht Monate Haft.

Die Familie Lübcke: Für sie waren es zweifellos die schwersten Monate. Zuerst der schmerzhafte Verlust des Mannes und Vaters. Aber dann auch noch den Männern tagelang gegenüber zu sitzen, die ihn ermordet hatten. Getrieben hat sie zweifellos der Wunsch, endlich zu erfahren, "was in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 geschehen ist und wie es dazu kommen konnte", wie der Sprecher der Familie, Holger Matt, sagte. Dass der Angeklagte ihrer Meinung nach versuchte, seine schwere Kindheit als Mitgrund für die Tat zu skizzieren, ärgerte sie. Es sei "für die Familie kaum zu verkraften, dass der Hauptangeklagte mit ausufernden Erklärungen zu seiner schweren Kindheit", den Eindruck erwecke, als sei er das Opfer, so Matt. Die Familie Lübcke ist insgesamt davon überzeugt, dass die Angeklagten Stephan Ernst und Markus H. den Mord gemeinschaftlich, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen begangen haben.

Quelle: ntv.de


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