"Vielen ist nicht klar, was hier abgeht!"

  29 Januar 2021    Gelesen: 617
"Vielen ist nicht klar, was hier abgeht!"

Junge Kleinanleger organisieren sich in Internetforen, um die Kurse von Firmen wie Gamestop nach oben zu treiben und Kasse zu machen. Darunter leiden einst mächtige Hedgefonds und Leerverkäufer. Ist das gut? Börsenexperte Dirk Müller warnt: "Die Situation ist brandgefährlich."

Millionen kleiner Robin Hoods erobern die Wall Street und machen die Finanzwelt besser. Dieser Eindruck entsteht, wenn man hört, dass sich junge Kleinanleger in Scharen organisieren, um die Kurse einzelner Aktien katapultartig nach oben zu treiben. Damit bringen sie plötzlich milliardenschwere Hedgefonds kräftig in Schieflage und erfreuen Gegner professioneller Spekulanten. Börsen-Experte Dirk Müller allerdings warnt bei ntv.de: "Was bei Gamestop passiert, offenbart, dass Börse kein Spielfeld mehr ist, sondern ein Schlachtfeld."

Kleinanleger sind seit Mitte Januar massenweise bei der Aktie der Computerspielekette eingestiegen und haben dafür gesorgt, dass der Börsenwert um das 17-Fache gestiegen ist. Gamestop ist nicht der einzige Titel, der so gehypt wird. Die jungen Anleger verabreden sich in Internetforen wie Reddit zu konzertierten Kaufaktionen und profitieren dabei von professionellen Investoren wie Hedgefonds, die auf fallende Kurse gewettet haben. Allein in dieser Woche hat das den Gamestop-Kurs von 75 auf zeitweise 380 Dollar nach oben getrieben.

"Wenn man plötzlich die Möglichkeit hat, den Markt zu beeinflussen, dann macht man es auch, weil man es geil findet und die Kohle machen will", so Müller. "Aber vielen ist nicht klar, was hier abgeht!" Mit einem Kampf David gegen Goliath oder Kleinanlegern, die Wall-Street-Haien die Zähne ziehen, hat der Hype für ihn gar nichts zu tun. Durch die inzwischen zahlreichen geschürten Hypes bei kleinen Aktien drohe eine gefährliche Kettenreaktion, die den "Untergang der Finanzwelt, wie wir sie kennen", zur Folge haben könnte, warnt der ehemalige Börsenhändler, der als Mr. Dax bekannt wurde.

"Hedgefonds sind nicht nur die Bösen"

"Die Situation ist brandgefährlich", sagt Müller. Die Reddit-Zocker hätten das Geschäftsmodell von vielen Hedgefonds nicht verstanden oder es sei ihnen schlichtweg egal, weil sie allein ihren Profit vor Augen hätten. "Die überwiegende Zahl der Hedgefonds, über die wir jetzt diskutieren, hat ein viel ausgewogeneres Geschäftsmodell, als es auf den ersten Blick aussieht. Ich nehme Hedgefonds ungern in Schutz, ich halte das Geschäftsmodell des Leerverkaufens für gefährlich. Aber man muss das ganze Modell verstehen."

Viele Hedgefonds, erklärt Müller, setzen nicht nur auf fallende Kurse. "Sie investieren das Geld, das sie mit dem Leerverkauf vermeintlich schlechter Aktien erlösen, in Aktien von guten Unternehmen, deren Geschäftsmodell funktioniert." Zum Beispiel: Apple oder Facebook. Hedgefonds "sind nicht nur die Bösen", erklärt er. "Sie hedgen, sie sichern sich ab. Sie sagen sich, über die Zeit werden sich die guten Aktien besser entwickeln als die schlechten. Unterm Strich machen wir damit also einen Gewinn." Das Prinzip ist einfach: Steigt der Gesamtmarkt, steigen alle Aktien, der Hedgefonds macht mit den nur wenig steigenden "schlechten" Aktien dann in der Theorie weniger Verlust, als er mit dem erhofften stärkeren Anstieg der "guten" Aktien gewinnt. Das ganze funktioniert aber nur, wenn die Rechnung mit den Leerverkäufen aufgeht.

Doch das tut sie gerade nicht. Wenn Millionen Nutzer jeweils vielleicht 3000 Euro einsetzen, kommen Milliardensummen zusammen. Wenn das dazu genutzt wird, Kurse nach oben zu ziehen, ist die Bilanz der Hedgefonds kaputt. Was das für Folgen hat, konnte man bereits sehen. Die ersten Hedgefonds sind durch den virtuellen Flashmob bei Gamestop bereits in Schieflage geraten. Die Hedgefonds Citadel und Point72 mussten Melvin Capital zum Wochenstart mit 2,75 Milliarden Dollar unter die Arme greifen, um einen Zusammenbruch des Konkurrenten zu verhindern.

"Die goldigen Robinhood-Spieler zerstören den Aktienmarkt"

"Das, was sie short sind, explodiert plötzlich nach oben, und sie machen Verluste. Sie müssen die Aktien zu wahnsinnigen Preisen mit einem Aufschlag von 200 oder 300 Prozent zurückkaufen, wenn sie die überhaupt bekommen. Oder müssen Geld nachschießen, weil sie Sicherheiten hinterlegen mussten, dort wo sie ihre Aktien geliehen haben. Sie brauchen dringend Cash", sagt der Börsenexperte. Sie seien gezwungen, sich von anderen Investments zu trennen, um ihre Verluste auszugleichen. Die gefährlichen Folgen sind in den Augen von Müller bereits an der jüngsten Talfahrt von Dax, Dow Jones & Co. zu erkennen. "Der Einbruch bei guten Aktien wie Apple oder Facebook geht einher mit dem Hype bei diesen Kleinaktien. Die kleinen Robinhood-Spieler, die so toll die großen Hedgefonds angreifen, die so goldig und lieb daherkommen, zerstören den Aktienmarkt."

Der Crash könnte zu einer "Kettenreaktion führen, die unser ganzes Finanzsystem zerstören kann". Einen Vorgeschmack, was passieren könne, habe man bereits 1998 bekommen, als der Beinahe-Kollaps des Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) das globale Finanzsystem erschütterte. Der Hedgefonds musste von anderen Banken mit einem milliardenschweren Rettungspaket aufgefangen werden, ansonsten hätte der Untergang von LTCM den Zusammenbruch der amerikanischen Bankenwelt bedeuten können.

Milliardenschwere Hedgefonds in Schwierigkeiten durch ebenbürtige Zocker: "Ich will nicht wissen, wie viele Sondersitzungen heute Nacht stattgefunden haben", sagt der Börsenexperte. Die Zeche, meint er, zahlen ganz normale Sparer. "Die Kettenreaktion, die ausgelöst wird, betrifft eben nicht nur die Hedgefonds. Da hängt die komplette Altersversorgung dran, da hängen die Pensionskassen dran. Die Jungs zerstören die Altersvorsorge ihrer Eltern und Großeltern."

Es habe immer "Sauereien" gegeben, aber Börse sei trotzdem einmal "ein ehrbarer Ort" gewesen, sagt Müller. "Es war der Ort, an dem Geld eingesammelt wurde, um Unternehmen zu finanzieren, die damit Maschinen und Arbeitsplätze geschaffen haben. Der Handel mit den Aktien war sekundär." Inzwischen sei Börse zum Kriegsschauplatz verkommen. "Es geht nicht darum, in ein gutes Unternehmen zu investieren. Es geht darum, dass sich Leute hier verabreden, um damit Profit zu machen. Hier sind die Kleinzocker nicht besser als viel böse Finanzfirmen, die ihrerseits seit Jahren die Märkte zum Nachteil der Anleger manipulieren. Wir müssen insgesamt zurück zu einer nachhaltigen Aktienkultur zum Wohle aller Beteiligten."

Müller beobachtet die Entwicklung mit Sorge: Gamestop wird wohl nicht das Ende sein. Es wird weitere konzertierte Aktionen im Internet geben, die Aktienhypes auslösen. Auf dem Messengerdienst Telegram haben sich über 6000 Leute verabredet, die Anfang Februar ähnliche Aktionen mit Shortaktien in Deutschland planen - ebenfalls über Reddit.

Quelle: ntv.de


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