Per Hypnose nach Stalingrad

  12 März 2016    Gelesen: 919
Per Hypnose nach Stalingrad
Der Sowjet-Geheimdienst stahl seinen Stalingrad-Roman, unter Hypnose rekonstruierte der ehemalige Kriegsgefangene Heinrich Gerlach sein Werk. Es wurde ein Bestseller - und führte zu einem merkwürdigen Rechtsstreit.
Heinrich Gerlach durchlebt die Hölle: "Überall knallt es, alles rennt wie wild durcheinander. Dazwischen russische Panzer." Männer sterben, Pferde sterben, weil die Rotarmisten ihren Stall in Flammen geschossen haben. Langsam kommt Gerlach zu sich: "Sie schrieen... schrieen."


Als der ehemalige Oberleutnant erwacht, befindet er sich nicht im Kessel von Stalingrad, in dem er 1943 verwundet in sowjetische Gefangenschaft geriet. Stattdessen liegt Gerlach im Juli 1951 auf einer Couch in einer Münchner Praxis. Seit Tagen versetzt Dr. Karl Schmitz den Kriegsheimkehrer in Hypnose - und lässt seinen Patienten erneut das Grauen von Stalingrad erleben. Von August 1942 bis Februar 1943 fielen dort rund 150.000 von der Roten Armee eingekesselte Soldaten der deutschen 6. Armee, oder krepierten an Hunger und Kälte.
Gerlach will mit der Hypnose nicht das erlittene Trauma lindern. Das hatte er sich bereits wortwörtlich von der Seele geschrieben - auf mehr als 600 Seiten hatte Gerlach jahrelang in sowjetischen Lagern den Roman "Durchbruch bei Stalingrad" geschrieben. 1950 endlich wieder in West-Berlin in Freiheit, konnte der Autor sein Buch allerdings nicht veröffentlichen. Der sowjetische Geheimdienst hatte ihm das Manuskript abgenommen - wegen "Verleumdung des Sowjetvolkes" und "Lobpreisung des Hitlerismus".



Jahrzehntelang lagerte der Antikriegsroman im "Russischen Staatlichen Militärarchiv" in Moskau, bis es der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel 2012 wieder entdeckte. Mehr als 70 Jahre nach seiner Fertigstellung erscheint das Buch nun in seiner Ursprungsfassung.
Und existiert damit gleich zweimal. In jahrelanger Kleinarbeit hatte Gerlach sein verlorenes Buch rekonstruiert und 1957 unter dem Titel "Die verratene Armee" veröffentlicht.

Hypnotisierter Bestsellerautor

Die Rekonstruktion war langwierig und mühselig. Anfangs versuchte es Gerlach allein. "Es geht nicht!", schrieb er 1951 in einem Brief über seine Erinnerungsbemühungen. "Bei jedem Versuch schiebt es sich wie ein Schleier davor." Zu seinem Glück stieß Gerlach bald auf Karl Schmitz, der sich darauf spezialisiert hatte, mittels Hypnose verschüttete Erinnerungen zu wecken.

Der Autor kontaktierte den Mediziner, doch die Behandlung war teuer. Unbezahlbar für den gerade aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Lehrer. Das Magazin "Quick" hingegen hatte größtes Interesse an dem Experiment - und übernahm für die Exklusivrechte an der Geschichte die Kosten der Hypnose. Und konnte im August 1951 über Gerlach titeln: "Ich weiß wieder was war."

In den Sommerferien 1951 war Gerlach nach München gereist und hatte sich täglich in Trance versetzen lassen. Die Arbeit war schwieriger als erwartet, der exakte Wortlaut von Hunderten Seiten ließ sich unmöglich rekonstruieren. Nach der ersten Sitzung brachte Gerlach nur zwei Zeilen aus seiner Erinnerung zu Papier: "In der Gegend zwischen Wolga und Don hatte der Winter seine Spähtrupps vorausgesandt." Wenig Ausbeute für gut zweieinhalb Stunden Hypnosesitzung.
"Zu Beginn der Versuche war ich voller Zweifel", beschrieb der Schriftsteller sein Misstrauen gegen das Verfahren. Schmitz wechselte die Vorgehensweise. Er ließ den Patienten vergangene Erlebnisse Revue passieren, weckte ihn auf, ließ ihn berichten. Die Sekretärin des Arztes stenografierte mit, bis Gerlachs Erinnerung abbrach und eine weitere Hypnose nötig war. Gerlach erlebte die Trance auf zwei Ebenen. "Ich weiß, dass ich bei Dr. Schmitz sitze und dass er auf mich einredet, zugleich aber erlebe ich mich in der jeweils durch die Hypnose herbeigeführten Situation der Vergangenheit." Oft sah er, was ihm beim Schreiben des ersten Manuskripts vor Augen stand. Manchmal erlebte er eine Begebenheit noch einmal.

Vom "Führer" verraten

Drei Wochen dauerte die Behandlung. Erschöpft, aber zufrieden fuhr Gerlach nach Hause. 150 Seiten Material hatte ihm die Hypnose eingebracht, zur zweiten Fertigstellung des Buches brauchte er trotzdem weitere fünf Jahre. Den Rest klaubte der Autor aus Erinnerungen und Gesprächen mit ehemaligen Stalingrad-Kämpfern zusammen.

Als "Die verratene Armee" im Herbst 1957 erschienen, rührte die Geschichte von den Soldaten, die - von ihrem "Führer" verraten - in Stalingrad kämpften und starben, die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Ungeschminkt erzählte Gerlach von Hunger, Kälte, Einsamkeit, schilderte die Ausweglosigkeit in diesem sinnlosen Krieg, wie es auch Theodor Plievier in seinem Bestseller "Stalingrad" von 1945 getan hatte.

Wie nah seine Rekonstruktion ans Original herankam, sollte Gerlach nicht mehr erfahren. Er starb 1991. Mehr als 20 Jahre bevor sein erstes Manuskript durch Carsten Gansel, Professor an der Universität Gießen, in Russland wiederentdeckt wurde.

Ein Vergleich der beiden Versionen zeigt: Große Teile der Handlung sind gleich, allerdings fallen auch deutliche Unterschiede auf. In "Durchbruch bei Stalingrad" legte Gerlach noch viel mehr Wert auf die Beschreibung der ausweglosen militärischen Situation und der Menschen im Kessel - ihrer Illusionen und Hoffnungen, ihrer Verzweiflung und Einsamkeit.

In "Die verratene Armee" von 1957 hatte Gerlach bereits zeitlichen Abstand zu den dramatischen Ereignissen gewonnen - und hinterfragte, wie sie hatten geschehen können. Während der Autor in seiner Ursprungsfassung aus den Augen seiner Romanfigur "Lakosch" lediglich schilderte, wie eine "johlende Menge von Soldaten" beinahe eine Gruppe Juden massakrierte, suchte er Mitte der Fünfzigerjahre bereits nach den Gründen für den Rassenhass:

Die nationalsozialistische Propaganda trug demnach die Schuld.

Natürlich ist der neue Buchtitel "Die verratene Armee" aber auch eine Abrechnung mit Hitler - immerhin hatte der "Führer" der 6. Armee in Stalingrad den Ausbruch aus der sowjetischen Umzingelung strikt untersagt und seine Männer verrecken lassen.

"Zeugnis für die Toten"

Dieser rekonstruierte Roman wurde zum Verkaufsschlager. 30.000 Exemplare verkauften sich allein in den ersten drei Monaten. Dann meldete sich Dr. Schmitz wieder. Sieben Jahre nach der Zusammenarbeit sah er sich veranlasst, das Erinnerungsvermögen seines Ex-Patienten erneut aufzufrischen. Er übersandte Gerlach die Kopie eines Vertrags, der ihn, Schmitz, am Gewinn des Buches beteiligte. Er verlangte 10.000 Mark und drohte mit einem Prozess.
Gerlach war völlig überrascht von dem Vertrag. Die Unterschrift sei von ihm, bestätigte er, aber er könne sich beim besten Willen nicht erinnern, ein solches Schriftstück jemals unterschrieben zu haben. War er unter Hypnose dazu gezwungen worden? Die Sache ging vor Gericht und zog sich hin. Ein fragwürdiges grafologisches Gutachten der Landeskriminalpolizei Niedersachsen gab schließlich dem Arzt Recht. Im Vergleich einigte man sich auf die einmalige Zahlung von 9500 Mark.

Trotz dieses obskuren Rechtsstreits hatte Heinrich Gerlach mit der erfolgreichen Buchveröffentlichung sein eigentliches Ziel erreicht: "Zeugnis im Namen der Toten" abzulegen. Nur 6000 Männer der 6. Armee hatten Einkesselung und Kriegsgefangenschaft überlebt.

Quelle : spiegel.de

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