Zeitlupen-Pandemie gefährlicher als Covid-19

  31 Januar 2021    Gelesen: 590
  Zeitlupen-Pandemie gefährlicher als Covid-19

Seit einigen Jahren bemühen sich Ärzte, die Antibiotika-Verschreibungen einzudämmen. Damit sollen weitere Resistenzen verhindert werden. Im Corona-Jahr 2020 gingen sie tatsächlich zurück. Was bedeutet das?

Als die zweite Corona-Welle den Erdball überspülte, veröffentlichte die Welternährungsorganisation (FAO) Mitte November eine Warnung, die es in sich hatte. Sie verwies auf "eine Zeitlupen-Pandemie mit erheblichen langfristigen Bedrohungen für die globale öffentliche Gesundheit und Ernährungssicherheit", die "sogar gefährlicher als Covid-19" sein könnte. Gemeint war in dem Statement die stetig wachsende Resistenz von Bakterien gegenüber Antibiotika. Je öfter sie verschrieben werden, desto häufiger werden die Keime unempfindlich. Die Pharmaindustrie kommt kaum noch hinterher, ständig neue Varianten zu kreieren, um die Erreger wirksam zu bekämpfen.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO, die wie die FAO an die Vereinten Nationen angebunden ist, sterben bereits jedes Jahr weltweit 700.000 Menschen an von Bakterien ausgelösten Infektionen, gegen die ein Antibiotikum nichts mehr ausrichten kann. In Deutschland geht die Wissenschaft von einigen Tausend Toten per anno aus, möglicherweise sind es bis zu 20.000. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht. Mediziner und Forscher befürchten vielmehr das Gegenteil.

Ihre Befürchtung: Es könnte so schlimm kommen, dass Blutvergiftungen wieder Menschen hinraffen, wie es im vorindustriellen Zeitalter Alltag war. "Wenn die Antibiotikaresistenz nicht unter Kontrolle gebracht wird, könnte die nächste Pandemie, mit der wir konfrontiert sind, bakteriell und viel tödlicher sein", erklärt die stellvertretende FOA-Generaldirektorin, die Portugiesin Maria Helena Semedo. Wer hat Schuld an der Entwicklung? In jedem Fall: der Mensch.

Antibiotika in der Massentierhaltung

Die Massentierhaltung - vor allem von Geflügel - steht im Verdacht, durch das ständige Verabreichen von Antibiotika in der Mast die Entstehung gefährlicher Superkeime zu begünstigen. Züchter zeigen sich seit einigen Jahren durchaus problembewusst. Der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft sagte der Bundesregierung einen "verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika" zu und wird wohl auf Colistin in Ställen verzichten. Wobei die EU-Kommission ohnehin ein Verbot prüft.

Colistin gehört zu den sogenannten Reserveantibiotika. Sie heißen so, weil sie in der Humanmedizin nur im Notfall eingesetzt werden. Im November 2015 entdeckten Forscher, wie Bakterien die Eigenschaft der Colistin-Resistenz an andere Erreger weitergeben können. Verbandspräsident Friedrich-Otto Ripke erklärte, die Geflügelzüchter wollten "aktiv" einen Beitrag zu einer Minimierung der Resistenzen leisten, indem sie die Ausgabe von "Antibiotika und insbesondere Reserveantibiotika deutlich weiter reduzieren", etwa durch Verwendung alternativer Mittel und neuer Verfahren.

Unnötige Antibiotika-Therapien

Ein anderer Vorwurf richtet sich gegen die Ärzteschaft, Antibiotika viel zu oft und unnötigerweise zu verschreiben. US-amerikanische Forscher kamen in Untersuchungen zu dem Schluss, dass zwischen einem Viertel und 43 Prozent Verordnungen ausgestellt wurden, obwohl die zu behandelnde Krankheit nicht exakt diagnostiziert worden war oder keinen bakteriellen Hintergrund hatte. Vielfach wurden und werden - das gilt mit Sicherheit nicht nur für die USA, sondern die westliche Welt insgesamt - Husten oder Erkältungen mit Antibiotika behandelt.

Einen Hinweis darauf, dass auch in Deutschland derlei Arzneimittel sinnlos verordnet werden, erbrachte eine Statistik der Techniker Krankenkasse (TK). Während der ersten Corona-Welle wurden so wenig Antibiotika verschrieben wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Zahl der Rezepte ging der TK zufolge im April und Mai 2020 im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres um 43 Prozent zurück.

Das dürfte damit zu tun haben, dass sich viele Bürger aus Angst vor Covid-19 besser schützten, also die AHA-Regeln einhielten, aber auch gar nicht erst zum Arzt gingen - Krankenschreibungen wegen Atemwegsinfekten sanken ebenfalls deutlich. Die Krankenkassen halten sich mit Schuldzuweisungen an die Ärzteschaft auffällig zurück. "Man kann sagen, dass die AHA-Regeln dazu beigetragen haben, dass weniger Infekterkrankungen als in den vergangenen Jahren aufgetreten sind", erklärt eine Sprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin. Grundsätzlich könne davon ausgegangen werden, dass Antibiotika in den Praxen überwiegend verantwortungsvoll verordnet werde.

Sie verweist auf ein 2017 gestartetes Konzept mit dem sperrigen Namen "Resistenzvermeidung durch adäquaten Antibiotikaeinsatz bei akuten Atemwegsinfektionen", kurz RESIST, an dem sich Krankenkassen und andere Akteure des Gesundheitswesens beteiligen. Erklärtes Ziel ist es, den Einsatz der Mittel bei Atemwegsinfekten in der ambulanten Versorgung "zu optimieren". Erreicht werden soll das durch gezielte Fortbildungen von Ärzten sowie mehr und bessere Informationen für Kranke. Das hat mit einem Problem zu tun, auf das die TK verweist: "Es kommt vor, dass Patienten ein entsprechendes Rezept erwarten." Da könnte, so das Ansinnen, Aufklärung zu einem Umdenken führen.

Aufklärung von Ärzten und Patienten

Nach Angaben der RESIST-Organisatoren zeigte die Kampagne Wirkung. Während im Winter 2016/2017 noch 29 Prozent der Besucher von Haus-, Kinder- und HNO-Ärzten mit akuten Atemwegsinfekten ein Antibiotikum verschrieben bekamen, waren es in der kalten Jahreszeit 2018/2019 noch 24 Prozent. Allerdings deutet die Entwicklung auch darauf hin, dass die Deutschen wegen jedem Zipperlein zum Arzt rennen. Auch sind die Kassen bei der Bewertung vorsichtig. Die TK erklärt, die Daten zeigten, dass deutlich weniger Versicherte während der Pandemie in eine Praxis gegangen seien. "Dies hat dazu geführt, dass es auch weniger Verschreibungen gab." Den Grad der Beschwerden bilde die Statistik jedoch nicht ab. "Dies lässt sich nur vermuten."

Bei Winfried Kern, Professor an der Uniklinik Freiburg und Mitglied der Antibiotika-Sektion der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, klingt das schon deutlicher. Er sagt zu der Frage, ob die Zahlen der TK den Rückschluss zuließen, dass Mediziner in Praxen zu schnell Antibiotika verschrieben: "Tatsächlich kann man dies so interpretieren. Auch aus anderen Beobachtungen wissen wir, dass ein Teil der Ärzte noch übermäßig Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegsinfektionen verordnet." Nötig sei, Praxen, die überdurchschnittlich verschrieben, direkt anzusprechen. "Hier könnte man mehr gezielte Schulung fordern und anbieten." Jene Mediziner bräuchten eine direkte Rückmeldung und ein konkretes Angebot, wie sie ihre Verschreibungen überprüfen und sich eventuell korrigieren könnten.

Doch der Infektiologe nimmt auch die Bürger in die Pflicht, die entsprechende Rezepte geradezu verlangen. Sinnvoll sei, auf beiden Seiten für ein Bewusstsein für Antibiotika-Anwendungen zu sorgen. Mit anderen Worten: Das sollte nicht nur Sache der Mediziner sein.

Auf die Frage, ob mehr Bürger in der Pandemie auf bewährte Hausmittel wie heiße Bäder setzten, statt gleich zum Arzt zu rennen, antwortete der Professor: "Vermutlich ja - in dieser Covid-19-Saison hat man wohl mehr als bisher auf Hausmittel zurückgegriffen und vielfach ohne Antibiotika seine Erkältung auskurieren können." Was nicht heißen soll, auf den Besuch beim Hausarzt zu verzichten. Der sei sehr wohl die richtige Adresse, um zu klären, ob nicht doch Antibiotika vonnöten sei. "Man sollte nicht medizinischen Sachverstand und ärztliche Erfahrung ungenutzt lassen, wenn Unsicherheit besteht."

Quelle: ntv.de


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