"Wir müssen weg von Flatten the Curve"

  02 Februar 2021    Gelesen: 604
"Wir müssen weg von Flatten the Curve"

Der aktuelle Lockdown endet offiziell in zwei Wochen - aber vermutlich wird er verlängert. Der Frust in der Bevölkerung wächst. Das bisherige Vorgehen ist gescheitert, glauben manche Wissenschaftler. Eine Alternative taucht auf: die No-Covid-Strategie. Aber wie würde sie konkret aussehen?

Deutschland ächzt unter der Pandemie. Die Zahl der Infizierten sinkt zwar seit Wochen, aber Politiker werden nicht müde, zu betonen, dass das Gröbste noch lange nicht geschafft ist. Bis zum 14. Februar gelten die aktuellen Corona-Beschränkungen. Aber wie geht es dann weiter? Die Hoffnungen auf zügige Lockerungen werde unter anderem durch das Auftauchen von Coronavirus-Mutanten zunichtegemacht. Auch die Erlösung durch eine rasch herbei geimpfte Herdenimmunität rückt mit dem schleppenden Impfstart in immer weitere Ferne.

Gefühlt befindet sich das Land seit einem Jahr in einem Kreislauf aus steigenden Zahlen, Lockdowns, sinkenden Zahlen, Lockerungen und das Ganze wieder von vorne. Von einem "Jo-Jo-Lockdown" spricht Michael Hallek, Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Uniklinik Köln. Der Mediziner ist überzeugt, dass die derzeitige Eindämmungsstrategie gescheitert ist. Diese wurde vergangenes Jahr mit der Parole "Flatten the Curve" beschrieben: Die Ausbreitung des Virus soll nicht komplett gestoppt, sondern lediglich gebremst werden. Die als in Medien als Kurve dargestellte Zahl der Infektionen flacht so ab, ohne jedoch komplett zu versiegen.

Dieser Versuch "mit dem Virus zu leben", habe sich jedoch als nicht praktikabel erwiesen, sagt Hallek bei einer Pressekonferenz. Dafür sei Sars-CoV-2 zu ansteckend und zu krankmachend. Die derzeitige Strategie bringe vielmehr "das Schlechteste aus zwei Welten", hohe Kranken- und Todeszahlen, während gleichzeitig die Wirtschaft "an die Wand gefahren" werde. Daher: Weg von "Flatten the Curve", hin zu einer klaren Kontrolle des Virus. Wie das gehen soll? Hallek und andere Wissenschaftler wie die Virologin Melanie Brinkmann, die Politologen Elvira Rosert und Maximilian Mayer oder der Physiker Michael Meyer-Hermann haben die sogenannte No-Covid-Strategie (nicht zu verwechseln mit der Initiative "Zero-Covid") vorgeschlagen, deren Entwurf vor rund zwei Wochen bekannt wurde.

Inzidenz massiv senken

Die Autoren des No-Covid-Strategiepapiers verweisen auf Länder wie Australien und Neuseeland, in denen das Konzept bereits erfolgreich angewandt worden sei. Kernpunkte sind: Die Sieben-Tage-Inzidenz soll rapide gesenkt werden, auf zunächst 10 und schließlich auf null (bisher ist eine Inzidenz von unter 50 das Ziel von Bund und Ländern). Wo das gelingt, sollen sogenannte "Grüne Zonen" entstehen, in denen zur Normalität zurückgekehrt werden kann. Mit diesem Anreiz soll die Bevölkerung motiviert werden, Maßnahmen mitzutragen. Neue Ausbrüche sollen dann konsequent bekämpft werden, um das Virus fernzuhalten. Die in der Vergangenheit oft diskutierte Idee, vor allem die gefährdeten Risikogruppen wie Ältere und Kranke zu schützen, lehnen die Autoren als "weder umsetzbar noch vertretbar" ab.

Doch angenommen, Bund und Länder würden sich für die No-Covid-Strategie entscheiden - was würde das für die jetzige Situation bedeuten? Als Allererstes dürfte man sich von einem Ende des Lockdowns am 14. Februar verabschieden, betont Hallek. "Wir müssen nur noch ein paar Wochen weitermachen." Denn der aktuelle Lockdown funktioniere schließlich - wenn er weiter entschlossen durchgeführt werde, könne man in "vier bis sechs Wochen" in die grüne Zone gelangen, also bereits im März. Kreise und Regionen, welche die Inzidenz erfolgreich drücken können, dürfen sich dann vom Lockdown verabschieden. Andere müssen ihn länger beibehalten, bis sie ebenfalls am Ziel sind. Zwischen den Kreisen und Regionen könnte so ein "positiver Wettbewerb" entstehen, hofft Hallek.

Keine Polizeisperren, aber Stichproben

Doch die Verfechter der No-Covid-Strategie betonen auch, dass es bei der konkreten Umsetzung noch viele offene Fragen zu klären gibt. Etwa, wie verhindert werden soll, dass Menschen aus "Roten Zonen" in "Grüne Zonen" reisen - etwa zum Urlaub machen, Einkaufen oder für andere Freizeitaktivitäten. Es werde an den Straßen natürlich keine Polizeisperren geben, so Hallek. Allerdings seien Stichproben wie bei Verkehrskontrollen denkbar, die abschreckend wirken dürften. Auch sollen Ausnahmen von der Regel möglich sein - etwa, wenn ein Bewohner einer "Roten Zone" für seine 80-jährige Mutter in der "Grünen Zone" einkaufen geht.

Um die Inzidenz in den "Grünen Zonen" niedrig zu halten, müsse auch an anderen Stellen nachgebessert werden, betont Hallek - etwa bei der Teststrategie. Tests sollten "aggressiver und häufiger" eingesetzt werden, um das Virus zu kontrollieren. "Wenn man in ein Altersheim in einen anderen Kreis muss, dann testet man vorher", so der Mediziner. Mehrmals pro Woche "oder auch täglich" könnte künftig getestet werden. Noch viel wichtiger sei, so Hallek: Die Geschwindigkeit, mit der nach den ersten Symptomen eine Quarantäne verhängt wird, müsse steigen. "Bisher dauert das mehrere Tage in Deutschland."

Doch um die Inzidenz massiv zu senken, müsste auch die Bevölkerung mitziehen. Mobilitätsdaten liefern jedoch Hinweise darauf, dass sich die Menschen im aktuellen Lockdown nicht mehr so stark begrenzen wie noch zur Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Ähnliches kann auch Cornelia Betsch berichten - die Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt hat das Covid-19 Snapshot Monitoring (COSMO) initiiert, das erforscht, wie die Bevölkerung die Corona-Pandemie wahrnimmt. Es gebe im aktuellen Lockdown "sehr viel weniger freiwilliges Schutzverhalten als wir es im ersten Lockdown beobachten konnten", sagt Betsch. "Wir sind alle pandemiemüde." Eine aktuelle COSMO-Umfrage habe jedoch gezeigt, dass ein Strategiewechsel einen "Motivations-Push" geben könne, so Betsch. Zudem würden sich fast 80 Prozent der Befragten nach einem einheitlichen System sehnen.

"Vor das Virus setzen"

Aus Sicht von Dirk Brockmann, Leiter der Forschungsgruppe für komplexe Systeme an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist die No-Covid-Strategie ein "vielversprechender Ansatz". Anstatt erst zu überlegen, was zu tun ist, wenn die Fallzahlen anziehen - wie vergangenen Oktober - sollte man sich "in der Zeitskala vor das Virus setzen". Statt Getriebene des Virus zu sein, könnte sich der Mensch also zum Jäger des Virus wandeln - ein Perspektivwechsel also.

Doch bereits nachdem die No-Covid-Strategie vor rund zwei Wochen zum ersten Mal bekannt wurde, folgte die Kritik. Als "illusorisch" hatte etwa der Epidemiologe Klaus Stöhr gegenüber ntv.de den Ansatz bezeichnet. Bei einer hohen Infektiosität des Erregers, und weil noch mehr als 90 Prozent der Bevölkerung keine Immunität dagegen entwickelt hätten, "können selbst drastische Einschränkungen die dauernde Viruszirkulation nur in einem begrenzten Umfang und dann nur über einen kurzen Zeitraum reduzieren".

Die No-Covid-Autoren wollen nun noch diese Woche eine "Toolbox" vorstellen - also konkrete Werkzeuge, die als Hilfe der Politik an die Hand gegeben werden sollen. "Aber natürlich müssen wir die wiederum diskutieren", betont Hallek. Er ist jedoch zuversichtlich, dass die konkreten Werkzeuge bald zum Einsatz kommen könnten . Sei es am Anfang auch nur in einzelnen Kreisen wie Münster oder Rostock - in beiden Gebieten liegt die Inzidenz derzeit unter 50. Dort könne man dann zeigen, dass die Pandemie unter Kontrolle gebracht werden kann, so Hallek. Und er ist zuversichtlich, dass es gelingt. "Deutschland hat es ja schon einmal geschafft. Als wir entschlossener waren." Im Sommer vergangenen Jahres sank die Inzidenz im Tief auf 2,5 - zuletzt lag sie bei rund 90 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche.

Quelle: ntv.de


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