"Du wechselst ja auch nicht die Frau, wenn die mal ein Bein verliert", sagt der Fan des MSV Duisburg in der Sportschau-Doku "Nie mehr erste Liga? Traditionsvereine nach dem Absturz" - und lacht. Es ist das Lachen eines Mannes, der seinem Klub auch dann treu bleiben wird, wenn es in Zukunft noch tiefer in den Ligen der Republik mit seinem MSV hinuntergehen sollte: "Immer weiter. Muss." Der Anhänger der Zebras weiß, wovon er spricht. Sein Klub hat schon alle Phasen des Lebens durchlaufen - und ist immer noch da. Typisch Traditionsverein, könnte man sagen.
Doch was ist ein Traditionsverein überhaupt? Pathetisch gesagt: Ein Klub, der mehr ist als nur das Spiel an sich. Ein Verein mit Seele. Und genau dann ist ein Klub auch niemals kaputtzukriegen. Im Positiven wie im Negativen - durch zu viel oder durch zu wenig Geld. Denn egal, was auch immer passiert: Die Seele eines Vereins ist nicht käuflich. Und die Fans eines Traditionsklubs sind auch dann noch da, wenn alle anderen schon längst wieder weg sind. Das ist pure Romantik - aber wahr.
Genauso wahr sind allerdings auch diese Sätze von Julian Nagelsmann. Der heutige Trainer von RB Leipzig hat einmal gemeint: "Es gibt den schönen Spruch: Tradition ist wie eine Laterne. Den Intelligenten leuchtet sie den Weg, die Dummen klammern sich an sie." Übersetzt heißt das: Wer glaubt, etwas Besseres zu sein, weil er Tradition besitzt, der hat schon den ersten Schritt in die falsche Richtung getan.
Die Sammelbildchen aus den Schokoriegeln
Und genau diesem Irrglauben sind in den letzten Jahren so viele Klubs erlegen gewesen, die es aktuell eigentlich besser haben könnten - wenn sie nicht alle diesen einen entscheidenden, großen Fehler gemacht hätten. Denn nur weil der Verein auf eine erlebnisreiche Geschichte, vielleicht sogar den einen oder anderen bedeutsamen Sieg und leidensfähige Fans (zurück-)blicken kann, muss er sich dennoch an jedem einzelnen Tag der aktuellen Realität stellen.
Tradition ist schön - schießt aber keine Tore. Banal, wie wahr. Denn im Profifußball geht es immer und zuallererst um Geld. Und genau an dieser Stelle entbrennt stets der Konflikt zwischen den Anhängern der Traditionsklubs und den Fans der sogenannten Retortenvereine. Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach. So, wie sie der niederländische Nationalspieler Jan Wouters einmal auf den Punkt gebracht hat: "Ich will nicht unbedingt zu einem Klub mit Traditionen, sondern zu einem mit Geld."
"Ohne Moos nix los" hieß es in den achtziger Jahren auf kleinen, bunten Sammelbildchen in Schokoriegeln. Es war die Zeit, als sich der Fußball in Deutschland endgültig veränderte. Seitdem es den Klubs erlaubt war, Sponsoren ihre Trikotbrust zu verkaufen, ging der Kampf ums große Geld erst richtig los. Seit diesen Tagen hat sich viel getan - denn genau zu dieser Zeit begannen auch die ersten Traditionsvereine zu wackeln. Wer im Kampf um die Fleischtöpfe nicht geschickt agierte, verlor rasch den Anschluss.
Das historische "Vorbild" von Leipzig kommt aus Herne
Als dann schließlich nach und nach solche Klubs wie die TSG 1899 Hoffenheim und RB Leipzig auf der Bildfläche erschienen, hatten die untergehenden Traditionsvereine und ihre Fans endlich die geeignete Projektionsfläche, auf der sie ihren Unmut über ihren eigenen dramatischen Absturz spiegeln konnten. Dabei hatte es das, was diese "neuen" Klubs da mit viel Geld nun taten, bereits Mitte der siebziger Jahre bei so manchem "alten" Verein auf ähnliche Art und Weise gegeben. Bestes Beispiel hierfür ist der Niedergang des Westdeutschen Meister von 1959, Westfalia Herne.
Erhard Goldbach, ein Mineralölhändler und Chef einer Tankstellenkette, hatte 1975 sein Herz für die Westfalia entdeckt und viele Hunderttausende von DM in den Klub hinein gebuttert. Vorne auf den Jerseys prangte fortan in güldenen Lettern der Name seiner Firma: Goldin. Und 1977 gelang es ihm schließlich sogar, den Klub in "SC Westfalia Goldin 04 Herne" umbenennen zu lassen. Der Traditionsverein aus dem Ruhrgebiet und seine Anhänger waren selig, denn mit dem vielen Geld begann auch der sportliche Aufstieg.
Doch am 24. Juni 1979 fiel das ganze Kartenhaus innerhalb von Sekunden in sich zusammen. Goldbach hatte seit Jahren keine Mineralölsteuer mehr gezahlt und so waren 140 Millionen Mark Steuerschulden angelaufen. Das Zollamt schloss Goldbachs Mineralöllager, legte die Tankstellen trocken und ließ damit auch den Geldstrom an die Westfalia endgültig zum Versiegen kommen. Der DFB entzog daraufhin umgehend die Lizenz für die 2. Bundesliga. Der bis heute andauernde Abstieg des Traditionsklubs war nicht mehr aufzuhalten. Derzeit steht die Westfalia auf dem vorletzten Platz der bis auf Weiteres unterbrochenen fünftklassigen Oberliga Westfalen.
Das gewaltige Plus der Traditionsklubs
Das schöne Geld hatten sie also damals in Herne gerne genommen. Und auch bei vielen aktuellen Traditionsvereinen kann das Geld nicht den Unterschied ausmachen zu den sogenannten Retortenklubs, denn das wird auch heute noch gerne genommen - egal woher es denn auch immer genau stammen mag.
Die einzige Chance für Klubs wie dem MSV Duisburg, dem 1. FC Kaiserslautern und den vielen anderen Vereinen, die über viel Tradition, aber zu wenig Geld verfügen, hat Peter Neururer einmal so beschrieben: "Je mehr wir über die Vergangenheit reden, umso schlechter wird die Gegenwart. Und umso grauenhafter die Zukunft." Oder anders gesagt: Nur wer sich der harten Realität stellt und sich dabei der eigenen Tradition bewusst ist, hat das Potenzial schon (über-)morgen an die guten, alten Zeiten anknüpfen zu können.
Auf Schalke werden sie übrigens im Sommer bei der nächsten Mitgliederversammlung die Weichen für ihren Klub neu stellen. Mal schauen, wohin die Reise gehen wird. Eines ist aber jetzt schon sicher: Die Fans werden sie mitmachen - egal wohin sie führen wird. Und das ist und bleibt das größte Plus aller Traditionsvereine.
Quelle: ntv.de
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