Der frustrierendste Klub Englands

  02 Februar 2021    Gelesen: 961
 Der frustrierendste Klub Englands

Fußballverrückte Stadt, lange Tradition: Newcastle United ist ein bedeutender Verein. Der aktuelle Besitzer des Premier-League-Klubs ist allerdings so unbeliebt, dass viele Anhänger auf die Rettung durch einen Unrechtsstaat hoffen.

Steve Bruce hat gerade Post bekommen, und zwar mit erfreulichem Inhalt. Anders, als er es zuletzt gewohnt war, erhielt er Aufmunterung und Zuspruch. "Ich könnte Ihnen einen Stapel an Briefen vorlegen", versicherte der Trainer von Newcastle United den Reportern, die sich Ende der vergangenen Woche bei seiner digitalen Pressekonferenz zugeschaltet hatten: "Die Absender wünschen mir viel Glück und sagen, ich solle weiter mein Bestes geben", berichtete Bruce. Aus den Solidaritätsbekundungen zog er den Schluss: "Es herrscht keine komplette Weltuntergangsstimmung."

Genau diesen Eindruck kann man allerdings bekommen, wenn man sich den Zustand anschaut, in dem sich Newcastle United befindet, und das schon seit einer Weile, genau genommen: seit 2007. Das war das Jahr, in dem der Sportartikel-Magnat Mike Ashley den Verein übernahm. Seitdem dümpeln die Magpies, die Elstern, wie der Klub wegen der schwarzweißen Trikots genannt wird, entweder im Niemandsland der Premier-League-Tabelle herum oder kämpfen gegen den Abstieg.

Zweimal musste der Klub unter Ashley schon den Gang in die zweitklassige Championship antreten (und stieg direkt wieder auf), und auch die laufende Saison ist eine Tortur für viele Newcastle-Fans. Das überraschende 2:0 am vergangenen Wochenende gegen Everton war der erste Pflichtspiel-Sieg seit Mitte Dezember.

Acht Punkte Vorsprung auf einen Abstiegsplatz können nicht kaschieren, dass der Verein die Erwartungen seiner Anhängerschaft wieder einmal unterbietet. Selbst in Zeiten der pandemiebedingten Geisterspiele bekommt Trainer Bruce deshalb den Zorn des Publikums spüren. Mit Bannern vor dem St. James' Park, einem der beeindruckendsten Stadien Großbritanniens, fordern die Fans das Aus des 60 Jahre alten Übungsleiters.

Ein Bösewicht wie Voldemort

Bruce ist in Newcastle aufgewachsen und seit seiner Kindheit Fan des Klubs, doch das genügt nicht, um die Zuneigung des Anhangs zu gewinnen. Der langjährige Verteidiger von Manchester United lässt fantasielosen Defensivfußball spielen. Von allen Mannschaften in der Premier League haben die Magpies in dieser Saison den zweitwenigsten Ballbesitz.

Auch bei Torschüssen und Expected Goals (also den erwarteten Toren gemessen an der Qualität der Chancen) gehört die Elf mit Profis wie den Ex-Hoffenheimern Fabian Schär und Joelinton und dem früheren Hannoveraner Allan Saint-Maximin zu den Klassenschlechtesten. "Die Mannschaft spielt einfach langweilig", diagnostizierte kürzlich Liverpool-Ikone Jamie Carragher, mittlerweile ein angesehener TV-Fachmann.

Einfach langweilig - so empfinden auch viele Fans die Auftritte unter Bruce, doch in Wahrheit geht ihr Frust über die Frage hinaus, welche Art von Fußball der Verein unter welchem Trainer spielt. Sie klagen, dass Besitzer Ashley den viermaligen englischen Meister aus der fußballverrückten Stadt am River Tyne heruntergewirtschaftet hat und sportlich verkommen lässt. Fast durchgehend haben sie in den vergangenen Jahren gegen den Geschäftsmann protestiert, mit Plakaten im Stadion oder einem Boykott der Heimspiele.

"Newcastle United braucht einen Eigentümer-Wechsel. Es gibt unter dem aktuellen Besitzer keine Ambitionen", sagt Greg Tomlinson, der Vorsitzende des Newcastle United Supporters Trust, im Gespräch mit ntv.de. Ashleys Namen spricht er nicht aus, als wäre dieser ein Bösewicht wie Lord Voldemort bei Harry Potter.

Vorbild Manchester City?

Mehrmals schon schien ein Verkauf des Klubs in den vergangenen Jahren bevorzustehen, trotzdem kam ein Geschäft nie zustande. Gescheiterte Newcastle-Übernahmen sind zum Running Gag in den englischen Medien geworden. Und doch hätten die Fans ihren heiß ersehnten Besitzer-Wechsel im Frühling 2020 fast bekommen. Dieser wäre allerdings hochproblematisch gewesen. Der Staatsfonds Saudi-Arabiens wollte die Magpies für angeblich 300 Millionen Pfund kaufen.

Dieses Manöver war für viele Beobachter offensichtliches "Sportswashing", also der Versuch der Saudis, durch Investitionen in der populärsten Fußball-Liga der Welt von der verheerenden Menschenrechtslage im eigenen Land und dem Skandal um die Ermordung des kritischen Journalisten Jamal Khashoggi abzulenken.

Der Deal kollabierte nach monatelangem Hin und Her - und zwar wegen der angeblichen Verstrickung Saudi-Arabiens in die illegale Übertragung von Premier-League-Spielen. Der Versuch, einen Verein zur Image-Politur zu instrumentalisieren, stellte für die Liga offenbar kein Problem dar.

Auch die Mehrheit der Newcastle-Fans hätte sich die Übernahme gewünscht, wie unter anderem Umfragen im Lokalblatt "The Chronicle" nahelegen. Sie reizte die Aussicht, dass die Magpies mit den Millionen aus dem Wüstenstaat zu einem Top-Klub aufsteigen würden, ganz nach dem Vorbild von Manchester City unter Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan aus Abu Dhabi.

Ein bisschen wie beim Hamburger SV

Der krasse Gegensatz zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was in Wahrheit ist, erklärt den besonders großen Frust der Anhänger in dieser wieder einmal trüben Saison. "Die Newcastle-Fans fühlen sich wie Urlauber, die eine Fünf-Sterne-Reise in die Karibik gebucht haben, und dann in ein Zwei-Sterne-Hotel an der englischen Küste in einen besonders kalten und regnerischen Sommer verlegt wurden", schrieb nach der gescheiterten Übernahme der "Guardian".

Dass das Publikum abgestürzter Traditionsvereine von altem Ruhm träumt, ist kein Phänomen, das es nur in Newcastle gibt, in Deutschland lässt es sich unter anderem beim Hamburger SV oder dem 1. FC Köln beobachten. Fan-Vertreter Tomlinson bestreitet allerdings, dass die Fans der Magpies überzogene Erwartungen hätten: "Wie verlangen gar nicht die Meisterschaft oder die Champions League. Wir wollen einfach nur, dass der Klub versucht, das Beste aus seinen Möglichkeiten zu machen. Immer nur der Klassenerhalt als Ziel, das reicht nicht. Wir wollen einfach nur ähnliche Ambitionen haben wie Leicester, Everton oder Aston Villa." Wie Vereine also, die ein vergleichbares Profil besitzen wie Newcastle United und deutlich besser dastehen.

Während im Hintergrund weiter an einer möglichen Übernahme durch die Saudis gearbeitet wird und Besitzer Ashley sogar juristisch gegen die Premier League vorgeht, manövriert sich die Mannschaft weiter wenig inspiriert durch den Spielbetrieb. Immerhin, beim jüngsten 2:0 beim FC Everton operierten die Magpies mit einer neuen Herangehensweise, mit höherem Pressing und mehr Initiative. Das Ende der Negativserie war der Lohn. "Der Sieg gibt uns ein bisschen Selbstvertrauen", freute sich Trainer Bruce hinterher. Wie lange dieses Selbstvertrauen hält - darauf sollte man allerdings keine Wetten abschließen.

Quelle: ntv.de


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