Am Ende hat sich die Debatte offenbar so beschleunigt, dass nicht mal mehr Zeit für einen Schluck Wasser war. »Geht sofort los«, sagt Angela Merkel, nachdem sie sich an das Pult in der Regierungszentrale gesetzt hat und öffnet eine Flasche. »Ich muss erst mal was trinken.«
Dabei hatte sich die Angelegenheit zwischendurch wieder wie Kaugummi gezogen, so jedenfalls berichten es Teilnehmer der virtuellen Runde mit der Kanzlerin. Fast fünf Stunden dauerte diesmal die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), nun präsentiert Merkel wie gewohnt im Anschluss die Ergebnisse – zu ihrer Rechten der amtierende MPK-Chef, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, zu ihrer Linken der Vize-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder.
Auf dem Papier – sieben Seiten umfassen die Bund-Länder-Beschlüsse – sieht das Ergebnis im Kern folgendermaßen aus:
Der geltende Shutdown wird bis zum 7. März verlängert.
Friseure allerdings dürfen schon ab dem 1. März wieder öffnen.
Weitere Öffnungen, etwa für den Einzelhandel, sind erst ab einem Inzidenz-Wert von 35 möglich.
Die Länder haben bei Schulen und Kitas freie Hand.
Hat sich Merkel durchgesetzt im Ringen um die richtigen Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus? Oder haben diesmal eher die Länderchefs gegen die Kanzlerin gepunktet?
Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Nimmt man Merkels Gemütslage in und nach der MPK zum Maßstab, scheint sie sich ziemlich gut mit den Ergebnissen zu fühlen. »Aufgeräumt« sei die Kanzlerin gewesen, ist von Teilnehmern zu hören, geradezu »erleichtert« habe sie gewirkt, ab und an sogar ein bisschen gescherzt. Vielleicht, weil sie sich die Verhandlungen viel schwieriger vorgestellt hatte?
Ein Teil der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten hatte im Vorfeld klargemacht, dass sie den Lockdown lockern wollen, zudem forderten sie darüber hinaus Öffnungsperspektiven. Aber das wollte Merkel gemeinsam mit jenen Ministerpräsidenten, die einen ähnlich strengen Kurs wie sie verfolgen, unbedingt verhindern. Und es ist ihr gelungen.
Die Länder haben dafür im Gegenzug freie Hand bei Schulen und Kitas bekommen. Anders als in der Vergangenheit hat Merkel in der Runde gar nicht erst versucht, hier eine gemeinsame Linie zu vereinbaren. Bei der Pressekonferenz räumt sie das erstaunlich freimütig ein. Dass die Länder theoretisch ab kommender Woche in Grundschulen und Kitas den Lockdown selbst beenden können, habe sie nicht verhindern können, sagt die Kanzlerin. »Da ist es ganz einfach nicht möglich, dass ich als Bundeskanzlerin mich so durchsetzen kann, als hätte ich da ein Vetorecht.«
Das überraschende Eingeständnis ihrer Machtlosigkeit an dieser Stelle, das dürfte die erfahrene Verhandlerin Merkel geahnt haben, half wiederum bei anderen Punkten. Bei manchem Verbündeten sorgte dieser Deal allerdings für Irritationen. So sagte Baden-Württembergs Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann, wie die Kanzlerin Verfechter eines strengen Anti-Corona-Kurses, laut Teilnehmern: »Angela, ich bin über deinen Kurswechsel nicht erfreut.«
Merkels Kurswechsel bei Schulen und Kitas beinhaltet, dass sie Gesundheitsminister Jens Spahn nun prüfen lassen will, ob Lehrer und Erzieher im Gegenzug nicht in die zweite Impf-Prioritätsgruppe aufrücken können – bislang war das ausdrücklich nicht geplant.
Wichtiger für Merkel ist nämlich, dass weitere Lockerungen vorerst unterbleiben. Vor allem aber setzte sie durch, dass als Grenzwert für künftige Schritte in diese Richtung nicht eine Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen einer Woche festgeschrieben wird – sondern ein Wert von 35.
Die Zahl der Neuinfektionen muss runter, runter, runter – das ist Merkels oberste Maxime. Ihre Sorge: die britische Virusmutation. Derzeit mögen sich die Infektionszahlen zwar positiv entwickeln, doch dieser Trend könnte sich explosionsartig umkehren, sollte der Lockdown zu früh beendet werden und sich die deutlich ansteckendere Mutante ausbreiten. »Sie wird die Oberhand gewinnen«, sagt Merkel. Das alte Virus werde verschwinden, man werde mit einem neuen Virus leben. »Und dieses neue Virus und sein Verhalten können wir noch nicht einschätzen«, sagt sie. Deshalb sei weiterhin größte Vorsicht geboten.
spiegel
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