Im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie bereiten sich Mediziner, Gesundheitsämter und Labore auf die nächste Phase und die befürchtete Ausbreitung der mutierten Erreger-Varianten vor. Bundesweit scheint sich der Rückgang der Fallzahlen in den letzten Tagen zu verlangsamen. Einzelne Bundesländer verzeichnen bei der Sieben-Tage-Inzidenz zeitweise sogar leichte Zuwächse.
Die Ursachen für diese Entwicklung sind unklar. Die Anzahl der entdeckten Corona-Mutationen scheint derzeit viel zu gering, um das überregionale Meldegeschehen in größerem Ausmaß zu beeinflussen. Allerdings wird noch längst nicht überall flächendeckend nach den besorgniserregenden Sars-CoV-2-Varianten gefahndet. Denkbar wäre auch eine sehr viel näher liegende Vermutung: Der Beginn der Lockerungsdebatte könnte dazu geführt haben, dass die Vorsichtsmaßnahmen nicht mehr ganz so streng gehandhabt werden.
Die Aussicht auf Lockerungen rückt derzeit tatsächlich in mehr und mehr Regionen in Reichweite. Die seit 2. November stufenweisen verschärften Corona-Auflagen zeigen vielerorts beachtliche Wirkung. Mitte Februar bewegen sich mit Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bereits zwei der 16 Bundesländer unter der im Frühjahr vereinbarten "Obergrenze" von 50 Corona-Fällen im Sieben-Tage-Zeitraum je 100.000 Einwohnern. Fast 80 Regionen liegen mit ihrem Fallaufkommen bereits unter der neuen Zielmarke von 35.
Wie aus den von ntv.de ausgewerteten Meldedaten der Bundesländer hervorgeht, ist die Gesamtzahl der seit Beginn der Coronavirus-Pandemie erfassten Infektionsfälle bis Dienstagabend auf insgesamt 2.345.874 laborbestätigte Ansteckungen gestiegen. Das sind 4994 Fälle mehr als am Vortag.
Der aktuelle Tageszuwachs liegt um 315 Fälle unter dem Niveau von Dienstag vergangener Woche. Der übliche Anstieg der Fallzahlen nach dem Wochenende fällt diesmal vergleichsweise flach aus: Zu Wochenbeginn hatten die Landesbehörden in der Summe 4511 neue Ansteckungen verzeichnet.
Im Sieben-Tage-Schnitt kommen aktuell rund 7200 neue Fälle pro Tag hinzu. Diese Kennzahl scheint sich seit ein paar Tagen nicht weiter nach unten bewegen zu wollen. Das mehrtägige Mittel, das zuverlässig alle kurzfristigen Schwankungen durch starke und schwache Meldetage ausgleicht, hatte sich in den Wochen zuvor kontinuierlich verringert.
Der Höhepunkt der zweiten Ansteckungswelle war demnach kurz vor Weihnachten erreicht - mit im Schnitt 25.670 neuen Coronavirus-Fällen pro Tag. Seitdem geben die Fallzahlen deutlich nach, wobei das eingeschränkte Melde- und Testaufkommen während der Feiertage die Entwicklung zeitweise verdeckte. Erst ab dem 12. Januar war eine kräftig rückläufige Entwicklung zu erkennen.
Noch immer aber sind es deutlich zu viele Neuinfektionen, um von einer echten Entspannung der Lage sprechen zu können. Die Daten liefern trotzdem ein wichtiges Hoffnungszeichen: Je weiter die Fallzahlen sinken, desto besser sind die Chancen, lokale Ausbrüche mutierter Virus-Varianten in den kommenden Wochen in den Griff zu bekommen.
Nach gut dreieinhalb Monaten unter stufenweise verschärften und wiederholt verlängerten Corona-Auflagen steht immerhin eine Erkenntnis fest: Die Strategien der deutschen Pandemie-Abwehr zeigen Wirkung, das Virus und seine mutierten Varianten lassen sich durch einfache Maßnahmen aufhalten wie etwa Abstand halten, Hygiene, Mund-Nase-Schutz, Lüften und eine allgemeine Reduzierung der sozialen oder beruflichen Kontakte.
Die Erfolge bei der Eindämmung des Erregers muss sich Deutschland jedoch teuer erkaufen - mit gravierenden Einschnitten im öffentlichen Leben, in der Kultur, der Bildung und der Wirtschaft, die vielerorts ganze Existenzen aufs Spiel setzen.
Die "tiefgreifenden Maßnahmen zur Kontaktreduzierung" hätten in den vergangenen Wochen zu einem "deutlichen Rückgang des Infektionsgeschehens" geführt, heißt es in der Einleitung zum aktuellen Bund-Länder-Beschluss. Gleichzeitig sei jedoch davon auszugehen, dass sich die ansteckenderen Virus-Varianten mit ihren veränderten Eigenschaften bereits in Deutschland ausbreiten. Dies erfordere "erhebliche zusätzliche Anstrengungen".
Die Sorge vor den neuen Corona-Mutationen führte innerhalb Europas bereits zu drastischen Maßnahmen. An den Landesgrenzen zu Tschechien und Teilen Österreichs wurde der Reiseverkehr eingeschränkt. Die Abriegelungen im Grenzverkehr sollen die Ausbreitung der Virus-Varianten bremsen.
Dabei wird jedoch mit jedem Tag immer deutlicher, dass die mutierten Erreger mit ihren veränderten Eigenschaften längst innerhalb Deutschland kursiert. Vereinzelte Ausbrüche, bei denen Varianten nachgewiesen wurden, gibt es an weit auseinanderliegenden Orten. Nicht immer lassen sich die Ansteckungswege bis ins Ausland zurückverfolgen. Das Problem ist längst im Land.
Die große Corona-Krise ist damit offenkundig noch lange nicht ausgestanden. Der Ernst der Lage zeigt sich auch in den anhaltend hohen Sterbefalldaten. Bei der Zahl der täglich übermittelten Todesfälle ist weiter nur eine schwache Entspannung zu erkennen. Im Lauf des Dienstags registrierten die Landesbehörden 539 weitere Todesfälle (Vortag: 288).
In Deutschland sind damit seit Pandemie-Beginn nach amtlicher Zählung insgesamt 65.811 Menschen im Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion gestorben. Die Mehrheit der Todesfälle betrifft dabei Menschen aus den älteren Bevölkerungsgruppen, und die weitaus größere Zahl starb nicht während der ersten, sondern in der zweiten Ansteckungswelle. Kann Deutschland eine dritte Ansteckungswelle durch die getroffenen Vorkehrungen verhindern?
Inmitten der Debatte um die neuerliche Ausdehnung der Lockdown-Maßnahmen bemühten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Regierenden der Länder um ermutigende Perspektiven für die massiv belastete Öffentlichkeit. In den kommenden Wochen sollten, so hieß es, ausdrücklich auch konkrete Exit-Strategien besprochen werden.
Lockerungen könnte es demnach zunächst vor allem in jenen Bundesländern und Regionen geben, in denen sich die Sieben-Tage-Inzidenz "stabil" - also für "mindestens drei Tage", wie die Kanzlerin sagte - unterhalb der neuen Zielmarke von 35 aktuellen Neuinfektionen bewegt.
Die geplanten Öffnungsschritte müssten vor dem Hintergrund der Virusmutanten jedoch "vorsichtig und schrittweise" erfolgen, betonten Merkel und die Länderchefs, um die "erfolgreiche Eindämmung des Infektionsgeschehens nicht durch ein erneutes exponentielles Wachstum der Fallzahlen zu riskieren".
Ausdrücklich heißt es in den Beschlüssen aber auch: "Niemandem wäre geholfen, wenn durch zu weitgehende oder zu schnelle Öffnungen erneute umfassende Einschränkungen des öffentlichen Lebens notwendig würden, weil das Infektionsgeschehen sich wieder beschleunigt.
Insgesamt sehen sich Politik und Experten mit einer paradoxen Situation konfrontiert: Während die Fallzahlen fast überall im Land zurückgehen und der in den Meldedaten sichtbare Infektionsdruck nachlässt, müssen jetzt schon Vorkehrungen für die absehbare Konfrontation mit den neuen Virus-Mutationen getroffen werden.
Die Befürchtungen stützen sich auf die Auswertung epidemiologischer Daten, auf entsprechende Modellrechnungen mit erhöhten Ansteckungsraten sowie auf die düsteren Lehrbeispiele in Ländern wie Irland oder Portugal. Käme die Öffnung zu früh, heißt es, müsste auch Deutschland mit einem neuerlichen starken Anstieg der Fallzahlen rechnen - der aufgrund der Eigenheit der Mutationen wesentlich dramatischer ausfallen könnte als bei der zweiten Welle.
Die Pandemie-Politik muss diese besonders heikle Aufgabe bewältigen: Je weiter sich die Fallzahlen abschwächen, desto stärker schwindet die Bereitschaft der Öffentlichkeit, die Beschlüsse zur Pandemie-Abwehr weiter in vollem Umfang mitzutragen. Im Interview mit ntv und RTL gestand Bundeskanzlerin Angela Merkel zuletzt ein, wie schwer sie diese Fragen belasten.
Immer wieder müsse sie in dieser Pandemie "auch harte Entscheidungen treffen, und wie gerne würde ich auch was Gutes verkünden. Aber es hat ja keinen Sinn, wir dürfen ja auch keine falschen Hoffnungen wecken". Sie selbst "kenne sehr schwere Schicksale" durch den Lockdown, sagte sie auf Nachfrage: "Ich kenne auch die Nervenanspannung, wenn Familien auf sich zurückgeworfen sind."
Da die Umsetzung der Maßnahmen zur Eindämmung des Erregers in Deutschland größtenteils in der Verantwortung der Länder liegt, bleibt Merkel nichts anderes übrig, als in der Debatte mit den Ministerpräsidentinnen und Regierungschefs der 16 Bundesländer auf ein möglichst geschlossenes Vorgehen hinzuarbeiten. Einzelne Länder hatten allerdings bereits im Vorfeld des jüngsten Corona-Gipfels angekündigt, zum Beispiel bei der Schulöffnung eigene Wege gehen zu wollen.
n-tv
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