Warum eine noch viel größere Flüchtlingswelle droht

  14 März 2016    Gelesen: 2873
Warum eine noch viel größere Flüchtlingswelle droht
Seit 900 Jahren war es in Arabien nicht mehr so trocken. Bauern ziehen in die überfüllten Städte. Zusammen mit Religionskriegen und Rückständigkeit wird das noch mehr Flüchtlinge nach Europa treiben.
Die bislang wohl wichtigste Meldung des Jahres über den Nahen Osten schaffte es nicht in die Schlagzeilen deutscher Zeitungen. Die berichteten zwar über Syriens labilen Waffenstillstand, Chaos in Libyen, Kämpfe im Irak und Jemen, die Wahlen im Iran, die Terrorwelle in Israel und die politischen Krisen in der Türkei und Saudi-Arabien. Doch all das hätte angesichts eines neuen Berichts der US-Weltraumbehörde Nasa in der Berichterstattung nur die zweite Geige spielen dürfen.

Denn mithilfe ihrer Satelliten blickten die amerikanischen Forscher über den Tellerrand des Alltagschaos der Levante hinaus. Sie dokumentierten eine der Ursachen des Tohuwabohu, das die arabische Welt seit fünf Jahren zerreißt.

Seit 1998 herrscht in der Region nämlich "die längste Dürreperiode seit 900 Jahren", hieß es aus den USA. Die ist nicht nur länger, sondern auch um 50 Prozent trockener als alle Dürreperioden der vergangenen 500 Jahre. Es wäre nicht das erste Mal, dass Klimawandel das Angesicht der Region von Grund auf verändert und globale strategische Konsequenzen nach sich zieht.

Ernüchternde Berichte der UN

Experten sprachen bislang von drei zentralen Problemen, die sich wie rote Fäden durch fast alle Konflikte in Nahost ziehen – ungeachtet erheblicher Unterschiede zwischen den 22 arabischen Staaten. Da ist der uralte Religionsstreit 1336 Jahre nach der Schlacht von Kerbela und der Ermordung eines Enkels des Propheten Mohammed, der den Islam in Schiiten und Sunniten spaltet. In Syrien, dem Irak, im Libanon und der arabischen Halbinsel wird dieser uralte Zwist fortgeführt, wo er zur Trennlinie zwischen den Bürgerkriegsparteien wurde.

Das zweite Problem sind chronische Defizite an Demokratie, Emanzipation und Bildung, die seit 2002 in einer Reihe von Berichten der Uno – den "Arab Human Development Reports" (AHDR) – minutiös festgehalten wurden. Die Berichte dokumentieren, wie fehlende Frauenrechte die arabische Welt zurückhalten.

So wie im Falle der weit verbreiteten Kinderehen. Laut neuesten Statistiken ist jede siebte Braut Arabiens minderjährig. Die meisten arabischen Staaten haben zwar ein gesetzliches Mindestalter fürs Heiraten (in Jemen ist das 15 Jahre). Doch vielerorts nutzen Familien juristische Hintertürchen, um Frauen über religiöse Instanzen schon vorher zu vermählen.

So entsteht ein Teufelskreis, in dem "Armut, mangelnde Bildung, hohe Fruchtbarkeit und schlechte Gesundheit die wirtschaftliche und soziale Entwicklung einer Gesellschaft behindern", so ein Bericht des "Population Reference Bureau". Die AHDR konstatierten ferner, dass (inzwischen mit der Ausnahme Tunesiens) kein arabischer Staat frei ist. Und sie belegen die mangelnde Bildung in der Region, wo die Analphabetenrate der Erwachsenen im Jahr 2003 bei 43 Prozent lag – höher als in der Dritten Welt.

All das führte dazu, dass die arabische Welt im Jahr 2005 weniger industrialisiert war als dieselbe Region im Jahr 1975. Eine ganze Generation junger Araber wurde nicht nur ihrer Zukunft, sondern ihrer Gegenwart beraubt. Deswegen entbrannte hier ein Kampf darum, wie diese Missstände zu beheben sind: ob mit mehr oder weniger Demokratie, und vor allem: mit welcher Form des Islams?

All diese Probleme sind seit Ausbruch der Arabellion noch schlimmer geworden: Es gibt weniger Bildung, Freiheit und Emanzipation, die Gräben zwischen Schiiten und Sunniten sind tiefer, die Debatten um die Lösung härter, die radikalen Auswüchse abstruser geworden.

Dass es in Arabien irgendwann kriseln musste, war also klar. Doch warum ausgerechnet 2011? Und warum überall zugleich? Darauf lieferte die Nasa einen Teil der Antwort. Im Sommer 2010 kamen mehrere extreme klimatische Ereignisse zusammen, die das labile Gleichgewicht des Nahen Ostens kippten: In China herrschte eine Jahrhundertdürre, riesige Steppenbrände in der Ukraine und Russland und starke Überschwemmungen in Kanada und Australien führten zu Missernten und verdoppelten den Weizenpreis.

Das traf vor allem den Nahen Osten – eine Region mit fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber nur einem Prozent der weltweiten Süßwasserreserven. Neun der zehn größten Weizenimporteure der Welt sind hier. Besonders devisenarme Staaten wie Ägypten litten darunter. Hinzu kam besagte, von der Nasa belegte Dürre.

Parallelen zu historischen Dürren

In Syrien verendeten zwischen 2006 und 2011 rund 85 Prozent der Herden, 800.000 Bauern verloren ihren Lebensunterhalt, drei Millionen Syrer rutschten in die Armut ab und wanderten in die übervölkerten Städte. Dort lebten bereits rund eine Million Iraker, die vor dem Chaos im eigenen Land flohen. Der Schatt al-Arab, der als Standort des biblischen Paradieses galt, die Wiege der menschlichen Zivilisation, wurde von Dürre, Staudämmen in der Türkei, einer genozidalen Politik Saddam Husseins und dem späteren Bürgerkriegschaos und durch Korruption zerstört.

In ganz Nahost entstand so der große Sturm: Die am schnellsten wachsende, jüngste Bevölkerung des Erdballs, von korrupten und verkrusteten staatlichen Strukturen verwaltet, wird von gewaltigen Umweltproblemen heimgesucht. Das perfekte Pulverfass.

Dieses Zusammenwirken von Klimawandel und politischer Krise ist nicht neu. Hätte es vor 3300 Jahren Zeitungen gegeben, sie würden von denselben Schlagzeilen geschmückt, die wir heute aus Nahost lesen. Das "erste internationale Zeitalter" der späten Bronzezeit war Zeuge eines Dominoeffekts mit dem Kollaps der bis dahin bekannten zivilisatorischen Strukturen.

Innerhalb weniger Jahrzehnte brachen die Reiche der Hethiter, der Assyrer, Mykene, Zypern und sogar das reiche Ägypten zusammen. Ursache: eine andauernde Dürre. Die führte zu einer Kettenreaktion: verarmte Bauern wurden zu kriegerischen Nomaden ("Seevölker" genannt). Die Ausgaben für Grenzverteidigung stiegen, während Steuereinnahmen aus Landwirtschaft und Handel fielen. Letztlich erlagen die hochorganisierten Staaten diesen Stressfaktoren.

Eine ähnliche Kettenreaktion ist im Hochmittelalter belegt. Ab 1025 unserer Zeitrechnung erschütterten Kältewellen und Dürren sechzig Jahre lang das Gebiet von Afrika bis Asien – mit ähnlichen Konsequenzen. Byzanz wurde zum Rumpfstaat reduziert, das Reich der Ghaznawiden in Schutt und Asche gelegt, die Fatimiden zurückgedrängt, Nordafrika verwüstet und der Grundstein für das Osmanische Reich gelegt.

Die Türken aus den Steppen Asiens, bislang friedliche Bauern an den Rändern anderer Imperien – wurden durch Dürren in eine Dampfwalze der Eroberung verwandelt, der keiner der geschwächten, korrupten Staaten widerstehen konnte.

Ähnlich wie heute war es eine Zeit religiöser Spannungen. Eine puristische Form des Islam machte sich nach Jahrhunderten ausgesprochener Toleranz breit, Schiiten und Sunniten fielen nach langem Frieden übereinander her, der Islam führte in dieser heterogenen Region ethnische Säuberungen durch. Und jedes Mal überschwemmten Millionen von Flüchtlingen angrenzende Kontinente.

Missmanagement und Armut

Wenn die Geschichte als Leitfaden dienen kann, dann muss der Nasa-Bericht Europa gewaltige Sorgen bereiten. Denn er demonstriert, dass die Flüchtlingswelle, die den Zusammenhalt des alten Kontinents bedroht, nicht nur lokale politische, sondern auch globale, klimatische Auslöser hat. Und es wird noch schlimmer: Regenfälle sollen in der Region um bis zu 90 Prozent abnehmen.

So dürften die Flüchtlinge in Europa nur eine erste Welle sein. Millionen weitere werden folgen, wenn Missmanagement, Armut, historische Konflikte und ein unerbittlicher Klimawandel weite Teile des Nahen Ostens unbewohnbar machen.

Europa muss sich deswegen jetzt noch viel aktiver für die Stabilisierung des Nahen Ostens einsetzen, und vor allem regionale Kooperationen in Sachen Umwelt und Wasser noch viel entschiedener vorantreiben – nicht um Menschen in Nahost, sondern um sich selbst zu retten. Sonst bleibt dem Kontinent nur, sich langfristig auf noch viel größere Flüchtlingswellen vorzubereiten.

Quelle : welt.de

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