Der Abriss des nationalen Torwartdenkmals hatte früher begonnen, nicht erst an diesem 7. April 2006. Schon seit fast zwei Jahren rüttelten Jürgen Klinsmann und seine innovativen Mitarbeiter am Sockel des Titans. Ihnen gegenüber stand die Bayern-Lobby, die ihren King Kahn verbissen verteidigte. Doch erfolglos. Erst musste das Münchner Urgestein Sepp Maier gehen, dann öffnete Klinsmann das Tor für die Rotation und entschied sich schließlich für Jens Lehmann.
Was für ein Affront gegen die Bayern, was für eine Beleidigung für Oliver Kahn, den WM-Helden von 2002, der die deutschen Rumpelfüßler von Teamchef Rudi Völler in Japan und Südkorea beinahe im Alleingang ins Finale geführt hatte und trotz seines Patzers beim harmlosen Schuss von Rivaldo zum Spieler des Turniers gewählt wurde. Als erster Torwart überhaupt. Dreimal war Kahn Welttorhüter, zweimal Fußballer des Jahres - und vor der Heim-WM 2006 dennoch auf die Bank verbannt.
In einem Vier-Augen-Gespräch an diesem Apriltag überbrachte Klinsmann Kahn die Nachricht, dabei hatte er noch im Sommer des Vorjahres klipp und klar gesagt: "Wenn nichts Außergewöhnliches passiert, Oliver ein langes Leistungstief haben sollte oder eine Verletzung dazwischenkommt, dann hat er die besten Karten zu spielen." Zu diesem Zeitpunkt war Kahn schon als Kapitän durch Michael Ballack ersetzt worden und Andreas Köpke statt Maier Bundestorwarttrainer.
"Lang abgewartet, dann zugeschlagen"
Nun wartete Deutschland gespannt auf Kahns Reaktion, immerhin konnte dieser nicht immer seinen Zorn zügeln. Kahns Kung-fu-Tritt hatte Stephane Chapuisat nur knapp verfehlt, er knabberte Heiko Herrlich am Hals, und schüttelte seinen Mitspieler Andreas Herzog dermaßen durch, dass der Wiener später scherzte, das Schleudertrauma sei erst nach fünf Jahren erledigt gewesen. Zudem war Lehmann nicht nur ein Konkurrent im Tor, die Rivalität der beiden Keeper hatte ein - zumindest für Lehmann - bedrohliches Ausmaß erreicht.
Doch Kahns Ausraster lagen länger zurück, er war reifer geworden, ruhiger. Zunächst dachte Kahn daran, alles hinzuschmeißen, doch dann stellte er sich in den Dienst der Mannschaft. Seine Bayern ärgerte die "falsche" Entscheidung kolossal, Lothar Matthäus nutzte die Gelegenheit, gegen seinen alten Erzfeind zu stänkern. "Jürgen Klinsmann hat eine Zeit lang abgewartet, dann hat er zugeschlagen. So wie er es immer gemacht hat", sagte Matthäus.
Klinsmanns Mut zum Unkonventionellen sollte belohnt werden. Lehmann zahlte das Vertrauen zurück, und Kahn eroberte die Herzen der Sommermärchen-Fans. Er fügte sich in seine Rolle und unterstützte Lehmann. Unvergessen die Szene vor dem Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen Argentinien, als er Lehmann auf dem Rasen Glück wünschte. Belohnt wurde Kahn mit dem Spiel um Platz drei, seinem 86. und letzten Länderspiel.
Quelle: ntv.de, ara/sid
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