"Es ist jetzt die Zeit dafür"

  03 Mai 2021    Gelesen: 2081
"Es ist jetzt die Zeit dafür"

In Deutschland nehmen die Impfungen gegen das Coronavirus Fahrt auf. Mehr als ein Viertel aller Menschen hat eine Dosis erhalten. Nun wird es Zeit, über Lockerungen für Menschen zu reden, die sich nicht mehr anstecken können. Die waren am Sonntagabend Thema bei Anne Will in der ARD.

Plötzlich soll alles ganz schnell gehen. Eigentlich hatte man sich noch ein wenig Zeit lassen wollen mit einer Gesetzesvorlage, die Lockerungen für vollständig gegen das Coronavirus Geimpfte regeln sollte. Nun sind aber die Politiker aus der Großen Koalition ein wenig überrascht, dass es mit dem Impfen schnell und reibungslos läuft. Deswegen soll die Vorlage nun schon am Mittwoch vorgelegt und möglichst noch diese Woche von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden. Das hat Vizekanzler Olaf Scholz von der SPD am Abend in der ARD versprochen. Aber geht denn das? Ist es dafür nicht doch noch ein bisschen zu früh? Gibt es andererseits eine Alternative zu den Lockerungen? Fragen, die Anne Will am Sonntagabend in ihrer Talkshow im Ersten diskutieren wollte, obwohl die Antworten eigentlich klar sind.

Das will die GroKo

Die Gesetzesvorlage ist mittlerweile bekannt, und Justizministerin Christine Lambrecht von der SPD erklärte sie gleich zu Beginn der Sendung in aller Ausführlichkeit. Weil Covid-19-Genesene und Geimpfte kaum noch andere Menschen mit dem Coronavirus anstecken können, sollen sie so schnell wie möglich so viele Grundrechte wie möglich wieder nutzen dürfen. Dazu gehören Treffen mit mehreren Menschen oder Verwandtenbesuche. Tests vorm Einkaufen oder dem Friseurbesuch fallen weg, nächtliche Ausgangsbeschränkungen auch. Maskenpflicht und Abstandsgebot bleiben aber weiter gültig. Außerdem bleiben Restaurants, Kinos und Theater zu, solange die Drei-Tages-Inzidenz zu hoch ist.

Bei diesen Schritten sind sich die Koalitionäre einig, die in der Sendung zu Gast sind, also neben Lambrecht auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder von der CSU. Bayern gehört zu den Bundesländern, die einzelne Punkte der Vorlage schon jetzt umsetzen. So brauchen sich dort schon seit vergangenem Mittwoch vollständig Geimpfte nicht mehr testen zu lassen. Dies gilt ab dieser Woche insgesamt in fünf Bundesländern. Noch einen Schritt weiter will Schleswig-Holstein gehen, wo schon bald Hotels wieder öffnen könnten.

"Grundrechte sind kein Bonbon"

"Es gibt Licht am Ende des Tunnels, und die Grundrechte für vollständig Geimpfte können nicht länger eingeschränkt werden", begründet die Justizministerin die Gesetzesvorlage. "Grundrechte sind kein Bonbon und kein Privileg."

"Die dritte Welle ist möglicherweise gebrochen", glaubt Markus Söder. Nun komme es auf weitere Impferfolge an, sagt er. Noch in diesem Monat will er auch Betriebsärzte in die Impfkampagne einbinden, im Juni sollten dann auch die Schüler an die Reihe kommen. Wichtig sei, für das Impfen zu werben, besonders in den Städten, und hier vor allem in Problemvierteln.

"Welche Gefahr geht von Geimpften aus?"

Gerade in diesem Punkt hat Söder einen Fürsprecher in Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Er fordert: "Man muss jetzt mal zu Sonderlösungen kommen." Der renommierte Wirtschaftsforscher warnt vor einer "Bündelung von Risiken durch die Pandemie" in sozial schwierigen Umfeldern. Die Bewohner dort hätten nicht immer einen guten Draht zu ihren Ärzten, und so hätten sie mehr Probleme, Impftermine zu bekommen. Deswegen setzt er sich für eine Informationskampagne in Problemvierteln ein, um gerade dort die Menschen davon zu überzeugen, wie sinnvoll Impfen sei.

Nicht wirklich begeistert ist er jedoch von der Notbremse. "Die war nicht nötig", meint er. Außerdem beklagt er, dass noch immer keine stichhaltigen Informationen darüber vorhanden seien, wo sich Menschen mit dem Virus infizieren.

Der Frankfurter Virologe und Laborleiter Martin Stürmer sieht noch ein ganz anderes Problem und fragt: "Welche Gefahr geht von Geimpften aus?" Laut Robert-Koch-Institut gebe es kein Nullrisiko, sagt er. Menschen haben sich trotz Impfungen mit Corona angesteckt. "Trotz der Impfung gibt es immer noch ein Restrisiko", so der Mediziner. Er fordert, auf die Bremse zu treten, anstatt zu öffnen. Und hier weiß sich Stürmer im Einklang mit vielen Medizinern: Solange ein Virus von einem zum anderen Menschen übertragen werden kann, solange kann es sich weiterentwickeln und mutieren. Doch auch Stürmer ist klar: Für eine weitere Notbremse fehlt die rechtliche Grundlage.

"Da sind noch mehrere Schieflagen drin"

Auch die Vorsitzende des Europäischen Ethikrats, Christiane Woopen, ist mit den Lockerungen nicht ganz zufrieden. In der Vorlage seien noch einige Schieflagen zu finden, moniert sie. "Wir wissen nicht, wie lange man immun ist", meint sie - und fordert eine Pflicht für regelmäßige Tests auch für geimpfte Menschen. Und sie fordert: Gleiche Grundrechte für alle. Darum solle man mit den Öffnungen noch warten, bis die Inzidenzwerte allgemein nach unten gegangen sind.

Damit ist aber Justizministerin Lambrecht überhaupt nicht einverstanden. Sie sagt kategorisch: "Den Bürgern stehen ihre Grundrechte zu!" Und ganz leise kommt der Gedanke: Besonders, wenn bald Bundestagswahlen ins Haus stehen.

"Schwierigste Entscheidung meiner Amtszeit"

Sie gehörten zur wichtigsten Prioritätsgruppe: Alte Menschen in Pflegeheimen. Darum wurden sie vor allen anderen geimpft. Doch immer noch leben sie in erzwungener Isolation. Mit den Lockerungen der Regeln für Geimpfte soll sich auch das ändern. "Die Entscheidung zu treffen, dass Menschen in Pflegeheimen weniger Kontakte haben, war eine der schwierigsten, die ich in meiner Amtszeit treffen musste", sagt Justizministerin Lambrecht rückblickend. Gerade für solche Menschen müssten nun Kontakte dringend wieder möglich sein. Das habe man bisher nicht beschließen können, weil die notwendige medizinische Beurteilung und die nötigen gesetzlichen Grundlagen fehlten.

"Viele sagen, die Lockerungen gehen zu weit. Aber es ist jetzt die Zeit dafür", sagt die Ministerin. Damit waren eigentlich die Lockerungen in den Seniorenheimen gemeint. Jedoch nach fast anderthalb Jahren Corona dürfte Christine Lambrecht mit diesem Satz die Gedanken und Gefühle so ziemlich aller Zuschauer in Worte gefasst haben.

Quelle: ntv.de, chr


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